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Verlorene Illusionen (German Edition)

Verlorene Illusionen (German Edition)

Titel: Verlorene Illusionen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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Stanislaus trat in dem Moment ein, wo ich den jungen Menschen aufhob. In Mißachtung der Pflichten, die die Courtoisie einem Edelmann gegen eine Frau in jeder Lage auferlegt, hat er behauptet, er habe mich in einer zweideutigen Situation mit diesem jungen Menschen überrascht, den ich übrigens behandelte, wie er es verdient. Wenn dieser junge Hitzkopf die Verleumdungen kennte, zu denen seine Torheit Veranlassung gibt, würde er, ich kenne ihn, Stanislaus beschimpfen und ihn zwingen, sich mit ihm zu schlagen. Dieser Schritt käme einem öffentlichen Zugeständnis seiner Liebe gleich. Ich brauche es dir nicht erst zu sagen, daß deine Frau rein ist; aber du wirst der Ansicht sein, es liege für dich und für mich etwas Entehrendes darin, wenn Herr von Rubempré sich zu ihrem Verteidiger aufwirft. Geh also jetzt sofort zu Stanislaus und verlange von ihm ernstliche Genugtuung für die beschimpfenden Reden, die er über mich geführt hat; vergiß nicht: du darfst nicht dulden, daß die Sache beigelegt wird, wenn er nicht in Gegenwart zahlreicher und gewichtiger Zeugen alles zurücknimmt. Du gewinnst auf diese Weise die Achtung aller Ehrenmänner; du benimmst dich als Mann von Geist und Mut, und du hast Anspruch auf meine Achtung. Ich werde Gentil nach l'Escarbas reiten lassen, mein Vater soll dein Zeuge sein. Trotz seines Alters weiß ich, daß er der Mann ist, der diese Puppe zu Boden tritt, die den guten Ruf einer Nègrepelisse anzutasten wagt. Du hast die Wahl der Waffen, schlage dich auf Pistolen, du triffst vorzüglich.«
    »Ich gehe hin«, antwortete Herr von Bargeton und nahm Stock und Hut.
    »Schön, mein Freund,« sagte seine Frau, »so liebe ich die Männer, du bist ein Edelmann.«
    Sie bot ihm ihre Stirn zum Kuß dar, und der alte Mann küßte sie ganz glücklich und stolz. Diese Frau, die eine Art mütterliches Gefühl für dieses große Kind hegte, konnte eine Träne nicht unterdrücken, als sie hörte, wie das Portal sich hinter ihm schloß.
    »Wie er mich liebt!« sagte sie zu sich selbst. »Der arme Mann hängt am Leben, und trotzdem würde er es ohne Besinnen für mich hingeben.«
    Herr von Bargeton beunruhigte sich weiter nicht darüber, daß er sich am nächsten Tage mit einem Manne schlagen, daß er, ohne zu zucken, die Mündung einer Pistole auf sich gerichtet sehen sollte; nein, nur eine einzige Sache brachte ihn so in Verwirrung, daß er zitterte, als er zu Herrn von Chandour ging.
    »Was soll ich sagen?« dachte er, »Naïs hätte mir die Sätze sagen sollen!« Und er zermarterte sich das Hirn, um einige Sätze, die nicht lächerlich wären, zusammenzubringen.
    Aber Menschen, die, wie Herr von Bargeton, in einem Schweigen leben, das ihnen die Enge ihres Geistes und ihr beschränkter Gesichtskreis auferlegen, haben in den großen Augenblicken des Lebens eine ganz vollendete Feierlichkeit. Da sie wenig reden, entschlüpfen ihnen natürlich wenig Dummheiten. Und dann denken sie viel über das nach, was sie sagen müssen, und ihr großes Mißtrauen gegen sich selbst bringt sie dazu, ihre Reden so wohl vorzubereiten, daß sie sich vermöge eines Vorgangs, der Ähnlichkeit mit dem hat, der Bileams Eselin die Sprache gab, ganz wunderbar ausdrücken. Und so benahm sich Herr von Bargeton wie ein überlegener Mann. Er rechtfertigte die Meinung derer, die ihn für einen Philosophen aus der Schule des Pythagoras hielten. Er trat um elf Uhr abends bei Stanislaus ein und fand da zahlreiche Gesellschaft vor. Er grüßte Amélie schweigend und hielt der ganzen Gesellschaft sein nichtssagendes Lächeln entgegen, das unter den jetzigen Umständen den Eindruck tiefer Ironie machte. Es trat nun ein großes Schweigen ein, wie beim Herannahen eines Gewitters in der Natur. Châtelet, der zurückgekehrt war, sah mit einem bedeutsamen Blick hintereinander Herrn von Bargeton und Stanislaus an, dem sich der beleidigte Gatte höflich näherte.
    Châtelet verstand den Sinn eines Besuchs, den der alte Mann zu einer Stunde machte, wo er sonst zu Bett lag: Naïs setzte offenbar diesen schwachen Arm in Bewegung; und da seine Stellung bei Amélie ihm das Recht gab, sich in die Angelegenheiten des Hauses einzumischen, erhob er sich, nahm Herrn von Bargeton beiseite und sagte zu ihm:
    »Sie wollen mit Stanislaus sprechen?«
    »Ja«, antwortete der Gute, der glücklich war, einen Vermittler zu finden, der vielleicht das Wort für ihn führte. »Gut, gehen Sie in das Schlafzimmer Amélies«, entgegnete ihm der Steuerdirektor. Er war

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