Verlorene Illusionen (German Edition)
klug sehe. Vergiß nicht, daß ich ein Kind bin, daß ich mich ganz und völlig deinem lieben Willen überlassen habe. Ich wollte über Menschen und Dinge aus eigener Kraft siegen; aber wenn ich mit deiner Hilfe schneller ans Ziel kommen kann als allein, werde ich sehr glücklich sein, dir all mein Glück zu verdanken. Verzeih! Ich habe zuviel auf dich gesetzt, um nicht alles fürchten zu müssen. Für mich ist eine Trennung der Vorläufer des Verlassenwerdens; und verlassen zu werden ist der Tod.«
»Aber, liebes Kind, die Welt verlangt wenig von dir«, erwiderte sie. »Es handelt sich nur darum, daß du hier die Nacht zubringst, und du kannst den ganzen Tag bei mir sein, ohne daß jemand etwas daran finden darf.«
Einige Zärtlichkeiten beruhigten Lucien vollends. Eine Stunde später brachte Gentil ein paar Zeilen von Châtelet, der Frau von Bargeton mitteilte, daß er ihr in der Rue Neuve-de-Luxembourg eine Wohnung gemietet hätte. Sie ließ sich die Lage dieser Straße erklären, die von der Rue de l'Echelle nicht sehr entfernt war, und sagte zu Lucien: »Wir sind Nachbarn.«
Zwei Stunden später bestieg sie einen Wagen, den ihr Châtelet geschickt hatte, und fuhr in ihre neue Wohnung. Es war eine von denen, in die die Möbelhändler Möbel stellen, um sie an reiche Deputierte oder an hohe Persönlichkeiten zu vermieten, die für kurze Zeit nach Paris gekommen sind; sie war üppig, aber unbequem eingerichtet. Lucien kehrte gegen elf Uhr in sein kleines Hotel zurück und hatte von Paris noch nichts gesehen als den kleinen Teil der Rue St.-Honoré, der zwischen der Rue Neuve-de-Luxembourg und der Rue de l'Echelle liegt. Er legte sich in seiner elenden kleinen Kammer schlafen, die er unwillkürlich mit dem prächtigen Gemach Louisens vergleichen mußte. Kaum hatte er Frau von Bargeton verlassen, als der Baron du Châtelet anlangte. Er kam in strahlender Balltoilelte von einer Gesellschaft beim Minister des Äußern zurück. Er wollte Frau von Bargeton über alle seine Veranstaltungen Rechenschaft ablegen. Louise war unruhig, dieser Luxus ängstigte sie. Die Provinzgewohnheiten hatten schließlich auch sie erfaßt, sie war in ihren Ausgaben genau geworden; sie sah so auf Sparsamkeit, daß sie in Paris für geizig gelten konnte. Sie hatte etwa zwanzigtausend Franken in Form einer Anweisung auf den Generalsteuerdirektor mitgebracht und hatte diese Summe zur Deckung ihrer Ausgaben während der nächsten vier Jahre bestimmt. Jetzt fürchtete sie schon, nicht genug zu haben und Schulden zu machen. Châtelet teilte ihr mit, daß ihre Wohnung sie nur sechshundert Franken im Monat kostete.
»Was ist daran Schlimmes?« fragte er, als er den Ruck bemerkte, den diese Mitteilung bei Naîs erzielte. »Sie haben einen Wagen für fünfhundert Franken im Monat zu Ihrer Verfügung, das macht im ganzen fünfzig Louis. Sie haben im übrigen nur noch an Ihre Toilette zu denken. Wenn Sie aus Herrn von Bargeton einen Generalsteuerdirektor machen oder ihm eine Stellung im Haushalt des Königs verschaffen wollen, dürfen Sie nicht wie eine arme Frau aussehen. Hier wird nur den Reichen gegeben. Es ist sehr gut, daß Sie Gentil zur Begleitung und Albertine als Zofe haben, denn die Bedienten in Paris ruinieren einen. Essen werden Sie selten zu Hause, so eingeführt wie Sie bald sein werden.«
Frau von Bargeton und der Baron plauderten von Paris. Châlelet erzählte die Neuigkeiten des Tages, die tausend Nichtigkeiten, die man wissen muß, wenn man für einen Pariser gelten will. Er gab bald Naïs Ratschläge über die Geschäfte, in denen sie kaufen sollte: er nannte ihr Herbault für die Barette, Juliette für die Hüte und Häubchen; er gab ihr die Adresse der Schneiderin, die Viktorine ersetzen sollte, kurz, er machte ihr die Notwendigkeit begreiflich, sich zu entangoulèmieren. Dann verabschiedete er sich nach dem letzten guten Einfall, auf den er noch glücklich gekommen war.
»Morgen«, sagte er nachlässig, »habe ich ohne Zweifel eine Loge in einem Theater; ich werde Sie und Herrn von Rubemprè abholen; Sie gestatten mir doch gewiß. Sie beide in Paris einzuführen.«
»Er hat mehr Adel im Charakter, als ich dachte«, sagte sich Frau von Bargeton, als sie hörte, daß er auch Lucien einladen wollte.
Im Juni wissen die Minister nicht, was sie mit ihren Theaterlogen anfangen sollen; die ministeriellen Deputierten und ihre Mandanten sind in den Weinbergen beschäftigt oder besorgen ihre Ernte, ihre anspruchsvollsten Bekannten sind
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