Verlorene Illusionen (German Edition)
Wenn Sie diesen Brief lesen, wird das Andenken in Ihrem Besitz sein. Es steht Ihnen frei, alles zu vergessen. Nach den schönen Hoffnungen, die Ihre Hand mir am Himmel gewiesen hat, finde ich die Wirklichkeit des Elends im Schmutz von Paris. Während Sie glänzend und angebetet auf den Höhen der vornehmen Welt sich ergehen, bis zu deren Schwelle Sie mich geführt haben, werde ich in der elenden Dachstube, in die Sie mich verbannt haben, mit den Zähnen klappern. Aber vielleicht packt Sie die Reue mitten in den Festen und Vergnügungen, vielleicht denken Sie dann an das Kind, das Sie in den Abgrund gestürzt haben. Wohlan, Madame, denken Sie ohne Reue an das Kind! Aus der Tiefe seines Elends heraus reicht Ihnen dieses Kind das Letzte, was ihm geblieben ist: seine Verzeihung mit einem letzten Blick. Ja, Madame, dank Ihnen besitze ich weiter nichts. Nichts! Ist das nicht der Stoff, aus dem die Welt gemacht worden ist? Das Genie muß Gott nachahmen: ich will mit seiner Güte beginnen, ohne zu wissen, ob ich je seine Macht haben werde. Sie haben über nichts zu zittern, als daß ich schlecht werden könnte; Sie wären an meinen Lastern mitschuldig. Ach, ich beklage Sie, daß Sie zu dem Ruhm, dem ich jetzt an der Hand der Arbeit zusteuern will, nichts mehr beitragen können.«
Nachdem Lucien diesen pathetischen Brief geschrieben hatte, der aber voll der düstern Würde war, die dem Künstler von einundzwanzig Jahren oft in übertriebenem Maße zu eignen pflegt, trugen ihn seine Gedanken zu seiner Familie: er sah die hübsche Wohnung vor Augen, die David ihm auf Kosten eines Teils seines Vermögens eingerichtet hatte; die stillen, bescheidenen bürgerlichen Freuden, die er genossen hatte, tauchten vor ihm auf; die Gestalten seiner Mutter, seiner Schwester und Davids erhoben sich vor seinem Geiste, er sah noch einmal die Tränen, die sie bei seiner Abreise vergossen hatten, und er weinte selbst, denn er war allein in Paris, ohne Freunde, ohne Beschützer.
Einige Tage später schrieb Lucien an seine Schwester den folgenden Brief:
»Meine teure Eva! Die Schwestern haben das traurige Vorrecht, mit ihren Brüdern, die sich der Kunst geweiht haben, mehr Schmerzen als Freuden zu teilen, und ich fange an, zu fürchten, Dir sehr zur Last zu fallen. Habe ich Euch alle, die Ihr Euch für mich aufgeopfert habt, nicht schon genug ausgenützt? Die Erinnerung an meine so ganz von den Freuden des Familienlebens ausgefüllte Vergangenheit hielt mich in der Verlassenheit meines jetzigen Lebens aufrecht. Bin ich doch mit der Geschwindigkeit eines Adlers, der zu Nest fliegt, durch den weiten Raum geeilt, der uns trennt, um in eine Sphäre wahrer Liebe zu gelangen, nachdem ich den ersten Jammer und die ersten Enttäuschungen der Pariser Welt gekostet habe. Haben Eure Lichter geknistert? Sind die Scheite in Eurem Kamin gerutscht? Hat es Euch im Ohr geklungen? Hat meine Mutter gesagt: ›Lucien denkt an uns‹? Hat David geantwortet: ›Er kämpft mit Menschen und Dingen‹? Liebe Eva, ich schreibe diesen Brief für Dich allein. Dir allein traue ich mich, das Gute und das Böse, das mir zustoßen wird, zu gestehen; ich weiß, ich werde über das eine wie über das andere erröten, denn hier ist das Gute so selten, wie es das Böse sein sollte. Du sollst viel in wenig Worten erfahren: Frau von Bargeton hat sich meiner geschämt, hat mich am neunten Tage nach meiner Ankunft verleugnet, verstoßen, mir den Laufpaß gegeben. Sie hat mich gesehen und hat den Kopf weggewandt, und ich habe, um ihr in die Welt folgen zu können, in der sie mich hochbringen wollte, siebzehnhundertundsechzig von den zweitausend Franken, die ich aus Angoulême mitbrachte und so schwer aufgetrieben habe, ausgegeben. Wofür? wirst Du fragen. Arme Schwester! Paris ist ein absonderlicher Schlund: man kann dort für achtzehn Sous zu Mittag essen, und das einfachste Diner eines feinen Restaurants kostet fünfzig Franken; Du bekommst Westen und Hosen für vier Franken und vierzig Sous: die Modeschneider machen Dir sie nicht unter hundert Franken. Man gibt einen Sou, um über die Rinnsteine der Straßen hinüberzukommen, wenn es regnet. Schließlich kostet die kleinste Wagenfahrt zweiunddreißig Sous. Nachdem ich zuerst im eleganten Viertel gewohnt habe, bin ich jetzt im Hotel de Cluny in der Rue de Cluny, einer der ärmlichsten und düstersten Gassen von Paris, die zwischen drei Kirchen und den alten Baulichkeiten der Sorbonne liegt. Ich bewohne ein möbliertes Zimmer im
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