Verlorene Illusionen (German Edition)
gefahren. Diese Auskunft war gut. Staub nannte Lucien »Herr Graf« und zeigte ihm, mit welchem Talent er seine entzückenden Formen zur Geltung gebracht hatte.
»Ein junger Herr, der so angezogen ist,« sagte er zu ihm, »braucht nur in den Tuilerien spazieren zu gehen, nach Verlauf von vierzehn Tagen kann er eine reiche Engländerin heiraten.«
Dieser Scherz des deutschen Schneiders und die Vollendung seines Anzugs, die Feinheit des Tuchs, die Grazie, die er an sich selbst bemerkte, als er in den Spiegel sah, diese kleinen Dinge befreiten Lucien ein wenig von seiner Traurigkeit. Es schwebte ihm vor, Paris wäre die Residenz des Zufalls, und er glaubte für einen Augenblick an den Zufall. Hatte er nicht einen Gedichtband und einen prächtigen Roman, den ›Bogenschützen Karls IX.‹, im Manuskript! Er glaubte an sein Schicksal. Staub versprach den Rock und die übrigen Kleidungsstücke für den nächsten Tag. Am nächsten Tag kamen der Schuhmacher, die Wäschenäherin und der Schneider, alle mit ihren Rechnungen bewaffnet. Lucien verstand sich nicht darauf, sie loszuwerden, er stand noch unter dem Bann der Provinzgewohnheiten und bezahlte sie; aber nachdem er sie bezahlt hatte, blieben ihm von den zweitausend Franken, die er mit nach Paris gebracht hatte, nur noch dreihundertsechzig: seit einer Woche war er da! Trotzdem kleidete er sich an und ging aus, um auf der Terrasse des Feuillants spazieren zu gehen. Er nahm dort eine kleine Rache. Er war so vorzüglich gekleidet, so anmutig, so schön, daß mehrere Frauen ihn ansahen, und zwei oder drei waren über seine Schönheit so betroffen, daß sie sich nach ihm umblickten. Lucien studierte den Schritt und das Benehmen der jungen Leute und nahm einen Kursus in gutem Benehmen, während er dabei immer an seine dreihundertsechzig Franken dachte. Als er am Abend allein in seiner Kammer war, faßte er den Entschluß, mit dem Problem seines Aufenthaltes im Hotel du Gaillard-Bois, wo er im Glauben, er spare, nur die einfachsten Gerichte zum Frühstück genommen hatte, zu Rande zukommen. Er sagte, er wollte ausziehen, verlangte seine Rechnung und erfuhr, daß er hundert Franken schuldig war. Am nächsten Tag begab er sich ins Quartier latin, das David ihm um der Billigkeit willen empfohlen hatte. Nach langem Suchen fand er schließlich in der Rue de Cluny, in der Nähe der Sorbonne, ein elendes Hotel garni, wo er eine Kammer zu dem Preis, den er anlegen wollte, mietete. Er bezahlte sofort seine Wirtin vom Gaillard-Bois und zog noch am selben Tage in die Rue de Cluny. Sein Umzug kostete ihn nur eine Droschkenfahrt.
Nachdem er von seiner ärmlichen Kammer Besitz ergriffen hatte, suchte er alle Briefe der Frau von Bargeton zusammen, machte ein Päckchen daraus, legte es auf den Tisch und überblickte, bevor er ihr schrieb, in Gedanken diese verhängnisvolle Woche. Er dachte nicht daran, daß er zuerst rücksichtslos seine Geliebte verleugnet hatte, ohne sich darum zu kümmern, was aus seiner Louise in Paris werden würde; er sah nicht sein Unrecht: er sah seine gegenwärtige Lage; er klagte Frau von Bargeton an: sie hatte versprochen, ihn berühmt zu machen, und hatte ihn ruiniert. Er wurde wütend und stolz und schrieb in seinem krampfhaften Zorn den folgenden Brief:
»Madame! Was würden Sie von einer Frau sagen, der ein armer, schüchterner Junge gefallen hat, einer, der noch den ganzen edlen Glauben hat, den der Mensch später Illusionen nennt; von einer Frau, die die Reize der Koketterie, die Klugheit ihres Geistes und den schönsten Schein der mütterlichen Liebe anwenden würde, dieses Kind zu verführen? Die zärtlichsten Versprechungen, die Luftschlösser, die ihn entzücken, kosten sie nichts; sie entführt ihn, sie bemächtigt sich seiner, sie schilt ihn wegen seines geringen Vertrauens, sie schmeichelt ihm; und wenn nun das Kind seine Familie verläßt und ihr blind folgt, dann führt sie ihn an den Rand eines ungeheuren Meers, läßt ihn lächelnd ein gebrechliches Boot besteigen und überläßt ihn allein ohne Beistand den furchtbaren Wogen; dann lacht sie ihn auf dem Felsen, auf dem sie in Sicherheit ist, aus und wünscht ihm gute Reise. Diese Frau sind Sie; dieses Kind bin ich. In den Händen dieses Kindes befindet sich ein Andenken, das Ihre verbrecherische Gunst und Ihre Hingabe verraten könnte. Sie könnten erröten müssen, wenn Sie dem Kind, das den Wellen preisgegeben ist, wiederbegegneten und daran dächten, daß Sie es auf Ihrem Schoß gehabt haben.
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