Verlorene Liebe
Sturm? Ihr Haar, genauso tiefschwarz wie das von Kathleen, reichte bis auf Kinnhöhe herab und wirkte in seinem kühnen Schwung, als hätten sich diverse Böen daran ausgetobt. Beide Frauen besaßen den gleichen Körper, doch während er bei Kathleen zu stämmig aussah, wirkte er bei Grace schlank und biegsam. Sie ähnelte einer Weide, die sich geschmeidig im Wind beugt. Allerdings machte sie im Moment einen etwas verknitterten Eindruck. Sie trug einen hüftlangen Pullover über Leggings, eine Sonnenbrille, die von der Nase zu rutschen drohte, und gelbe hohe Turnschuhe, die farblich zum Pullover paßten. Kathleen hingegen hatte noch immer den Rock und das Jackett an, in denen sie zum Unterricht erschienen war.
»Kath!« Kaum hatte Grace ihre Schwester erspäht, ließ sie alle Taschen fallen, die sie mit sich schleppte, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, daß sie den nachfolgenden Passagieren dadurch den Weg versperrte. Sie umarmte Kathleen mit dem Enthusiasmus, mit dem sie alles anzugehen pflegte. »Ich freue mich so sehr, dich zu sehen. Du siehst großartig aus. Oh, ein neues Parfüm.« Sie schnüffelte intensiv. »Hm, gefällt mir.«
»Lady, geht es heute nochmal weiter?«
Ohne Kathleen loszulassen, lächelte Grace den entnervten Geschäftsmann hinter ihr an und riet ihm: »Steigen Sie doch einfach über die Sachen.« Knurrend befolgte er ihren Vorschlag. Grace hatte ihn schon vergessen, so wie ihr Unannehmlichkeiten nie lange etwas anhaben konnten. »Und, wie gefällt dir mein Outfit?« fragte sie ihre Schwester. »Was sagst du zu meiner neuen Frisur? Ich hoffe, du magst sie, denn ich habe ein wahres Vermögen für die Publicity-Aufnahmen hingeblättert.«
»Ich hoffe, du hast dich vorher wenigstens gekämmt.«
Grace fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. »Wahrscheinlich.«
»Die neue Frisur steht dir gut«, urteilte Kathleen. »Und jetzt komm. Gleich bricht hier ein Aufstand los, wenn wir deine Sachen nicht endlich aus dem Weg räumen. Was ist denn das?« Sie hob einen klobigen Aktenkoffer.
»Maxwell«, antwortete Grace und sammelte ihre Taschen ein. Mein tragbarer Computer. Maxwell und ich haben die wundervollste Affäre, die du dir nur vorstellen kannst.«
»Ich dachte, du wolltest Urlaub machen.« Kathleen gelang es, sich den wiederaufkeimenden Ärger nicht anmerken zu lassen. Der Computer war ein zu deutliches Symbol für Grace’ Erfolg und ihr eigenes Scheitern.
»Ich will ja auch Urlaub machen. Aber irgendwie muß ich mir doch die Zeit vertreiben, wenn du in der Schule unterrichtest. Hätte das Flugzeug noch weitere zehn Minuten Verspätung gehabt, wäre das Kapitel zu Ende geschrieben.« Sie warf einen Blick auf ihre Uhr, stellte fest, daß sie schon wieder stehengeblieben war, und vergaß sie im nächsten Moment. »Ehrlich, Kath, das wird der sensationelleste Mord, von dem du je gelesen hast.«
»Wo ist dein Gepäck?« unterbrach Kathleen sie rasch, weil sie wußte, daß Grace ihr sonst den ganzen Roman erzählt hätte.
»Meine Kiste wird morgen bei dir zu Hause abgeliefert.«
Die Kiste. In Kathleens Augen eine weitere Exzentrizität ihrer Schwester. »Grace, wann fängst du endlich an, wie normale Menschen mit Koffern zu verreisen?«
Sie liefen am Gepäckförderband vorbei, wo die Menschen dicht gedrängt standen, um sich beim Anblick ihres geliebten Samsonite-Koffers gegenseitig totzutrampeln. Erst wenn die Hölle zufriert, verreise ich so wie alle normalen Menschen, dachte Grace und lächelte. »Du siehst wirklich gut aus. Wie fühlst du dich?«
»Gut.« Doch weil sie schließlich ihre Schwester vor sich hatte, fügte Kathleen hinzu: »Eigentlich schon besser.«
»Du bist ohne den Mistkerl auch wirklich besser dran«, sagte Grace, als sie durch die automatischen Türen gingen. »Ich sage das nicht gern, weil ich weiß, wie sehr du ihn geliebt hast, aber es ist die Wahrheit.« Eine kalte Brise wehte aus dem Norden heran und ließ die Menschen vergessen, daß es bereits Frühling war. Über ihnen dröhnten startende und landende Flugzeuge. Grace lief, ohne sich nach links oder rechts umzusehen, auf die Straße und zum Parkplatz. »Das einzige Schöne, was er in dein Leben gebracht hat, war Kevin. Wo steckt mein Neffe eigentlich? Ich hatte gehofft, du würdest ihn mitbringen.«
Der schmerzhafte Stich kam und verging. »Er ist bei seinem Vater. Wir sind übereingekommen, daß es für ihn besser ist, wenn er während der Schulzeit bei Jonathan bleibt.«
»Wie bitte?« Grace blieb
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