Verlorene Liebe
mitten auf der Fahrbahn stehen. Eine Hupe ertönte, aber sie kümmerte sich nicht darum. »Kathleen, das kann doch unmöglich dein Ernst sein. Kevin ist erst sechs! Er sollte bei seiner Mutter sein. Jonathan läßt ihn wahrscheinlich nicht die Sesamstraße, sondern irgendwelche Schundcomics gucken.«
»Die Entscheidung ist getroffen. Wir sind der festen Überzeugung, daß es so für alle am besten ist.«
Grace kannte den Gesichtsausdruck, den ihre Schwester bei diesen Worten aufsetzte. Er besagte, daß Kathleen jetzt nicht mehr darüber reden wollte. Sie würde das Thema erst dann wiederaufnehmen, wenn sie sich dazu bereit fühlte. »Okay«, sagte Grace und lief neben ihr her. Automatisch beschleunigte sie ihre Schritte, während Kathleen über den Parkplatz raste. Ihre Schwester hatte es immer eilig. Sie selbst hingegen wanderte eher ziellos hierhin und dahin. »Du weißt, daß du immer mit mir reden kannst, wenn du das Bedürfnis dazu hast.«
»Ja, das weiß ich.« Kathleen blieb neben ihrem gebrauchten Toyota stehen. Vor einem Jahr noch hatte sie einen Mercedes gefahren. Aber dieser Verlust war noch der geringste gewesen. »Tut mir leid, wenn ich eben etwas barsch geklungen habe, Grace. Es ist nur so, daß ich im Moment nicht daran erinnert werden möchte. Ich habe mein Leben fast wieder in den Griff bekommen.«
Grace sagte nichts dazu und stellte ihre Taschen in den Kofferraum. Sie sah dem Wagen an, daß er seine besten Jahre hinter sich hatte, und sie wußte, daß er bei weitem nicht dem Lebensstil entsprach, den ihre Schwester früher gepflegt hatte. Aber weitaus mehr als dieser soziale Abstieg besorgte sie der angespannte Unterton in Kathleens Stimme. Am liebsten hätte Grace sie jetzt in den Arm genommen, unterließ das aber, weil sie wußte, daß ihre Schwester Mitgefühl für eine Form von Mitleid hielt. »Hast du in der letzten Zeit mit Mom und Dad gesprochen?«
»Ja, letzte Woche. Es geht ihnen gut.« Kathleen setzte sich hinters Steuer und legte den Sicherheitsgurt an. »Wenn man sie hört, könnte man annehmen, Phoenix sei das Paradies auf Erden.«
»Solang es ihnen nur gut geht.« Grace nahm auf dem Beifahrersitz Platz und fand zum ersten Mal Gelegenheit, sich umzusehen. National Airport. Von hier aus war sie abgeflogen, vor acht, nein, großer Gott, schon vor zehn Jahren. Was für eine Angst sie damals gehabt hatte. Sie wünschte, sie könnte diese Mischung aus Elan und Bangen vor der Zukunft in all ihrer Unschuld und Frische noch einmal erleben.
Bist du es langsam müde, Gracie? fragte sie sich, die zu vielen Flüge, die zu vielen Städte, die zu vielen Gesichter? Nun war sie zurückgekehrt, nur noch wenige Meilen von dem Haus entfernt, in dem sie ihre Kindheit verbracht hatte, und Seite an Seite mit ihrer Schwester. Eigenartig, daß sie nicht das Gefühl hatte heimzukommen.
»Was hat dich eigentlich dazu bewogen, nach Washington zurückzukehren, Kath?«
»Ich mußte dringend raus aus Kalifornien. Und das hier war der einzige Ort, den ich kannte.«
Aber warum wolltest du nicht bei deinem Sohn bleiben? Wie kannst du als Mutter dein Kind zurücklassen? dachte Grace, und sie mußte an sich halten, das nicht laut auszusprechen; sie wußte aber, daß dies nicht der rechte Moment war, ihre Schwester danach zu fragen. »Und jetzt unterrichtest du wieder an der Our Lady of Hope? Auch vertrautes Terrain, nicht wahr, obwohl sich dort so manches verändert hat.«
»Es gefällt mir da sehr gut. Vermutlich brauche ich die Disziplin, die das Unterrichten von mir fordert.« Kathleen fuhr den Toyota mit gewohnter Präzision aus der Parklücke und zum Schalter. Hinter dem Sonnenschutz steckten der Parkschein und drei Ein-Dollar-Noten. Grace fiel ein, daß Kathleen immer schon ihr Geld abgezählt bereitgelegt hatte.
»Und gefällt es dir im Haus?«
»Die Miete ist erträglich, und von dort fahre ich nur fünfzehn Minuten bis zur Schule.«
Grace unterdrückte das Bedürfnis zu seufzen.
Konnte Kathleen denn nie Freude über etwas zeigen? »Und, hast du jemand Neues kennengelernt?«
»Nein.« Aber Kathleen setzte wenigstens ein leises Lächeln auf, als sie sich in den Verkehr einfädelte. »Sex interessiert mich nicht mehr.«
Grace zog die Brauen hoch. »Aber jeder interessiert sich doch für Sex. Was glaubst du denn, warum die Bücher von Jackie Collins immer auf den Bestsellerlisten landen? Aber davon abgesehen, ich meinte, ob du jemanden kennst, der hin und wieder mal mit dir etwas unternimmt, mit dem
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