Verlorene Seelen - Carola Pütz erster Fall (Der neue Roman vom Autor der Oliver-Hell-Reihe)
*
Plauen
Unwillkürlich hatte Carola Pütz einen Vergleich gezogen. Zwischen der mit High-Tech-Instrumenten nur so vollgestopften Gerichtsmedizin in Frankfurt und der Gerichtsmedizin in Plauen. Letztere schnitt dabei wirklich schlecht ab. Für einen Augenblick fühlte sich Pütz in ihre Studienzeit zurückversetzt. Doch dann erblickte sie im Vorbeigehen einen Computer, der in einem der Räume stand. Nicht im Sektionsteil selber. In einem der beiden Vorräume. Auch fiel ihr die Kälte auf, die in den Räumen herrschte. Sie lag sicher zwei bis drei Grad unter der vorgeschriebenen Temperatur. Unbeobachtet hauchte sie ihren Atem aus. Nein, es kristallisierte noch nicht aus.
Der Schweigsame bekam es trotzdem mit. „Man hat mir erzählt, dass die Heizung wohl einen Defekt hat. Tut mir leid“, sagte er mit einer entschuldigenden Geste.
Er kann ja doch sprechen, dachte sie. Wohl nur in gewohnter Umgebung. Der Mann öffnete eine Türe. Dahinter lag in einem kleinen Raum anscheinend der Hauptraum der Gerichtsmedizin. Pütz zögerte, bevor sie schließlich eintrat. Es gab vier Sektionstische, die einen durchaus modernen Eindruck machten. Drei der Tische waren leer. Auf einem lag eine abgedeckte Leiche.
Weißes Leinen.
An einem Zeh des Opfers hing ein Zettel.
Der Name.
Sie kannte den Namen der jungen Frau noch nicht.
Herzklopfen.
Sie ging einige Schritte bis zu dem Sektionstisch hinüber. Siebzehn Fliesen auf dem Boden. Ihr Blick flog kurz zur Seite. Vierundzwanzig Fliesen. Vierhundertacht insgesamt.
Carola Pütz hielt den Atem an.
Bitte jetzt keine Attacke!
Sie versuchte , sich auf die Sache zu konzentrieren.
„Ist denn kein Kollege in der Nähe?“, fragte sie den Polizisten. Der zuckte mit den Schultern. „So viel wie ich weiß, ist die Kollegin krank.“
„Krank? Also wurde noch keine Sektion durchgeführt?“ Sie blickte den Mann verständnislos an. Er wich ihrem Blick aus.
„Nein. So ist das wohl“, sagte er.
“Und die Tote lag die ganze Zeit über hier?“ Pütz fasste der Toten an den Fuß, um die Temperatur zu prüfen.
„Nein, der Assistent hat sie eben erst aus der Kühlung geholt.“
„Gottseidank“, sagte Pütz und schlug mit einer schnellen Bewegung das Laken beiseite. Ihr erster Blick fiel auf das Gesicht der Toten. Jemand hatte ihr die Augen geschlossen.
Beinahe hatte sie wieder Gott bemüht, um ihre Erleichterung auszudrücken.
Kein K ornblumenblau.
„Wo ist der Assistent?“
„Der hat Mittagspause.“
Pütz quittierte die Worte mit einem Augenaufschlag. Wie beiläufig nahm sie den kleinen Zettel am Zeh der jungen Frau zwischen die Finger.
Jolanka Ciczek stand darauf und das Geburtsdatum der Frau.
„Sind die Eltern verständigt worden?“, fragte sie und rechnete wieder mit einer negativen Antwort.
„Sie ist Vollwaise. Die Frau, von der man zuerst dachte, sie sei ihre Mutter, war bloß ihre Tante.“
Eine Waise. Keine Eltern würden um das Kind trauern. In einem Anfall von Arbeitswut nahm sie das Laken von der Toten und faltete es zusammen. Sie spürte, wie sich ein Kloß in ihrem Hals bildete. Lass es bloß nicht zu nah an dich heran, dachte sie.
„Sind denn die nächsten Angehörigen verständigt worden?“
„Das Jugendamt in Cheb sucht nach einer anderen Tante. Weitere Verwandte gibt es wohl nicht mehr.“
„Was wissen Sie sonst über die Tote?“ Pütz blickte sich in dem Raum um. Gab es denn hier irgendwo ein Diktiergerät?
„Sie war keine bekannte Prostituierte“, fing der Beamte an mit seiner Erläuterung.
Pütz fragte sich mit einem flüchtigen Gedanken, ob sie besser in ihrer Klinik in Bad Elster geblieben wäre. Doch ein Blick auf den schmalen Körper der Toten beantwortete diese Frage auf eine ganz einfache Art.
„Dieses Kind war überhaupt keine Prostituierte. Sie wurde vielleicht dazu gebracht, unter Zwang Sex mit Männern zu haben“, sagte sie barsch. Ihr Blick sondierte schon während des Wortwechsels jeden noch so kleinen Hinweis, der sich auf dem Körper der Toten befand.
„Wo ist der Unterschied?“, fragte der Beamte. Pütz drehte sich abrupt um.
„Wie viele Dienstjahre haben sie auf dem Buckel? Fünfundzwanzig? Dreißig? Wären Sie jetzt noch in der Ausbildung, würde ich Ihnen eine Antwort darauf geben. Da Sie das aber nicht sind, dürfen Sie sich meine Antwort selber ausdenken. Außerdem wäre ich Ihnen jetzt sehr zu Dank verpflichtet, wenn Sie mir diesen Assistenten herbeischaffen würden.“
Pütz musste arg an sich halten, um
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