Verlorene Seelen - Carola Pütz erster Fall (Der neue Roman vom Autor der Oliver-Hell-Reihe)
Frau reichte dem einen Mann die Leine und zog ein weiteres Halsband aus der Tasche ihres Parkas.
Der Mann redete beruhigend auf den Hund ein, dem diese lieb gemeinte Zusprache aber nicht gegen seine Panik half.
Schnell war auch dem zweiten Hund Halsband und Leine angelegt. Er hatte sich schon in sein Schicksal ergeben.
Eine halbe Minute später war der Einsatz der Tierschützer beendet. Pütz hatte sich langsam von ihnen entfernt. Schritt für Schritt war sie im Schneetreiben rückwärtsgegangen. Aber nur so weit, dass sie die Szenerie noch gut einsehen konnte.
Ihnen war es also gelungen, die beiden kleinen Rüden einzufangen. Die Hunde konnten noch nicht wissen, dass ihnen jetzt keine Gefahr mehr drohte.
Die kleine Hündin war ihnen aber wieder entwischt. Insgeheim freute sich Pütz darüber. Sie blieb solange dort, bis die Stimmen sich in der Nacht verloren hatten. Die Lichtkegel der Lampen waren noch eine Weile zu sehen, dann waren auch sie verschwunden. Am Ende des Louisa-Sees waren sie rechts abgebogen.
Stille. Nur der Schnee war zu hören, der auf die letzten trockenen Blätter fiel, die noch an den Bäumen hingen.
Wo mochte die Hündin sein?
Die Frage konnte sie nicht beantworten. Was war das wieder für ein Tag gewesen. Was hatte sie für menschliches Leid erleben müssen. Einige der Dinge, die Tereza und Matej erzählt, und die ihnen Katharina Schuberth übersetzt hatte, kamen ihr wieder in den Sinn.
Als Pütz jetzt alleine war, als sie mit nassem Haar unter einem Baum stand, und in die Dunkelheit lauschte, machte sich nach dem betroffenen Schweigen auf der Rückfahrt nach Deutschland die namenlose Wut über diese Form des Menschseins und die eigene Hilflosigkeit vor Ort zum Herrn ihrer Gedanken. Hier an dieser Grenze vollzog sich etwas, was es eigentlich gar nicht gab. Nicht geben durfte. Hierzu bekannten sich weder Deutschland noch Tschechien. Es fand offiziell nicht statt, obgleich sie es selbst gesehen hatten und mit den beiden Kindern sprachen.
Schlimmer im Sin ne von unerträglich widerlich war es dann, als sie die kleine Schwester von Tereza und Matej gesehen hatte. Viel schlimmer als das Elend der Kinder auf den Einfallstraßen nach Eger und im Kern der alten Stadt selbst.
Winterhalter hatte recht. Sie stellte es sich viel zu einfach vor. Ein Artikel in der Bildzeitung würde noch lange keine Lösung für dieses Elend mit sich bringen. Ein kurzer Aufschrei der Empörung würde von einem langen Nichtstun gefolgt. Solange, bis das kollektive Gewissen von einer neuen Ungeheuerlichkeit aufgeschreckt worden war.
War es Selbstschutz? Hatte sie Angst vor den Gefühlen, die sie in dem Büro gehabt hatte?
Eine Antwort darauf hatte sie nicht. Selbst dieser Gedanke behagte ihr nicht. Aber letztlich war es gleich, sie verstand sowieso nicht mehr all das, was um sie herum passierte. Sie wusste nicht, warum sie hier in Bad Elster war. Sie wusste auch nicht, wie ihr weiteres Leben aussehen würde.
Du hast bloß eine große Klappe.
Mitten in diese unbehagliche Selbsterkenntnis hörte sie plötzlich hinter sich ein Geräusch. Pütz fuhr herum, riss ihre Augen auf, um irgendeine Bedrohung auszumachen.
Nichts. Nur Schnee. Weiß.
Erleichtert atmete sie auf und versuchte, auf ihrer Armbanduhr die Zeit abzulesen. Es war bereits halb neun. Hunger verspürte sie keinen. Selbst wenn es so gewesen wäre, alle Läden im Ort hätten jetzt geschlossen.
Sie drehte sich um und der Schreck fuhr ihr in sämtliche Glieder. Keinen Meter vor ihr war etwas. Lag auf dem frisch gefallenen Schnee.
Etwas Kleines. Sie wich einen Schritt zurück und suchte Halt. Doch da war nichts, an dem sie sich hätte festhalten können.
Das Etwas fing an , zu wimmern. Dieses Geräusch kannte sie nur zu gut. Ihre Nackenhaare standen ihr immer noch zu Berge, als sie völlig erleichtert sagte: „Wo kommst Du denn her?“
Einem Instinkt zufolge hätte sie sich am liebsten geschüttelt, um die Anspannung los zuwerden. Doch sie tat es nicht. Sie wollte den kleinen Hund, der vor ihr kauerte, nicht erschrecken. Stattdessen hockte sie sich hin und streckte ihre Hand aus.
„Haben sie d eine Brüder mitgenommen? Jetzt bist Du ganz alleine, meine Kleine.“
Der Hund reckte den Kopf, traute sich aber nicht, zu ihr zu gehen. Er wich sogar einen Schritt zurück.
„Nein, bleib! Ich tue dir nichts.“ Sie zog ihre Hand wieder zurück.
„Du bist also Marie, die alle suchen. Komm mal her, Marie.“ Sie ließ ihre Stimme möglichst sanft klingen.
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