Verlorene Seelen
meinem Ego zu tun.«
»Tatsächlich nicht?« Ben stand ebenfalls auf und nahm sie bei den Schultern, bevor sie sich wegdrehen konnte.
»Du mußt also perfekt sein, immer alles unter Kontrolle haben, immer die richtigen Antworten und Lösungen parat haben? Diesmal hast du sie nicht parat gehabt und warst auch nicht ganz so robust wie sonst. Sag mal, hättest du ihn daran hindern können, zu dieser Brücke zu gehen?«
»Ich hätte dazu in der Lage sein müssen.« Sie stieß ein trockenes, zittriges Schluchzen aus, als sie sich den Handballen zwischen die Brauen preßte. »Nein. Nein, ich konnte ihm nicht genug geben.«
Er legte den Arm um sie und zog sie aufs Bett zurück.
Zum erstenmal in ihrer Beziehung hatte er das Gefühl, gebraucht zu werden, ihr eine Stütze zu sein.
Normalerweise wäre das für ihn das Stichwort gewesen, 404
sich davonzumachen. Statt dessen blieb er neben ihr sitzen und nahm ihre Hand, während ihr Kopf auf seiner Schulter ruhte. Es war merkwürdig und ein wenig beängstigend, sich vollständig zu fühlen.
»Tess, das ist der Junge, von dem du mir schon mal erzählt hast, nicht wahr?«
Sie erinnerte sich an die Nacht ihres Traums, die Nacht, in der sie aufgewacht war und Ben neben sich gefunden hatte, erinnerte sich an die Wärme seines Körpers und seine Bereitschaft, ihr zuzuhören. »Ja. Ich hatte seit Wochen die Befürchtung, daß er sich etwas antun könnte.«
»Und das hast du seinen Eltern gesagt?«
»Ja, hab’ ich, aber …«
»Aber sie wollten nichts davon hören.«
»Das hätte keine Rolle spielen dürfen. Ich hätte in der Lage sein müssen …« Sie verstummte, als er ihr Gesicht dem seinen zudrehte. »Nein«, sagte sie seufzend, »sie wollten nichts davon hören. Seine Mutter hat ihn aus der Therapie genommen.«
»Und so den Faden durchgeschnitten.«
»Mag sein, daß er sich dadurch noch ein bißchen weiter in sich selbst zurückgezogen hat, aber ich glaube nicht, daß es der ausschlaggebende Faktor war, der ihn zum Selbstmord getrieben hat.« Der Kummer war immer noch da, ein kaltes, drückendes Gefühl in der Magengegend, doch inzwischen vermochte sie wieder klar genug zu denken, um über ihre eigene Position in dieser Angelegenheit hinausblicken zu können. »Ich glaube, heute abend ist etwas anderes geschehen.«
»Und du glaubst zu wissen, was es war?«
»Möglicherweise.« Sie stand wieder auf, da sie zu aufgewühlt war, um sitzen zu bleiben. »Ich versuche 405
schon seit Wochen, Joeys Vater zu erreichen. Sein Telefon ist abgestellt. Ich bin sogar vor ein paar Tagen zu seinem Apartment gefahren, aber er ist ausgezogen, ohne seine neue Adresse zu hinterlassen. Er sollte dieses Wochenende mit Joey verbringen.« Tess wischte sich mit den Handrücken die Tränen von den Wangen. »Joey hatte sich so sehr darauf verlassen. Als sein Vater nicht gekommen ist, um ihn abzuholen, hat das die Last auf seinen Schultern vermehrt, vielleicht so sehr, daß er sie nicht mehr tragen konnte. Er war ein hübscher Junge, eigentlich ein junger Mann.« Erneut rannen ihr die Tränen übers Gesicht, doch diesmal löste sich ihr Kummer und kam unverhohlen zum Ausdruck. »Er hatte Schlimmes
durchgemacht, und trotzdem war da direkt unter der Oberfläche diese Wärme, dieses große Bedürfnis, geliebt zu werden. Er glaubte einfach nicht, daß er es verdiente, daß ihn irgend jemand wirklich mochte.«
»Und du mochtest ihn.«
»Ja. Vielleicht zu sehr.«
Es war seltsam, aber der aufgestaute Groll, der mit Bitterkeit vermengt war und den er seit dem Tod seines Bruders im Innern mit sich herumgetragen hatte, begann sich zu verflüchtigen. Er sah sie an – die reservierte, objektive Psychiaterin, die im Gemüt anderer Menschen herumstöberte – und erblickte die echten Narben, die der Kummer hinterlassen hatte, nicht nur der Kummer über einen Patienten, sondern der Kummer über ein
menschliches Wesen.
»Tess, was seine Mutter da im Krankenhaus gesagt hat
…«
»Das spielt keine Rolle.«
»Doch, tut es. Sie hatte unrecht.«
Tess wandte sich ab und sah im schwachen Licht, das 406
aus dem Korridor hereinschien, im Spiegel über der Frisierkommode ihr Ebenbild. »Nur zum Teil. Verstehst du, ich werde nie wissen, ob alles anders gekommen wäre, wenn ich eine andere Richtung eingeschlagen, wenn ich versucht hätte, die Sache anders anzugehen.«
»Sie hatte unrecht«, wiederholte Ben. »Vor einigen Jahren habe ich ganz ähnliche Dinge gesagt. Vielleicht hatte ich damals auch
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