Verlorene Seelen
brüllte etwas von Hinterhalt und
Heckenschützen. Als ich aufstand und versuchte, ihn zu beruhigen, ging er auf mich los. Als mein Vater hereinkam, war Josh gerade dabei, mich zu würgen.«
»O Gott, Ben.«
»Vati schaffte es, ihn zu wecken, und als ihm klar wurde, was er beinahe getan hätte, setzte Josh sich auf den Fußboden und weinte. So habe ich noch nie jemanden weinen sehen. Er konnte nicht mehr aufhören. Wir brachten ihn zum Veteranenverband. Dort wies man ihm einen Psychiater zu.«
Die Asche an seiner Zigarette war lang geworden. Ben drückte die Kippe aus und wandte sich wieder seinem Brandy zu. »Ich war damals schon auf dem College, so daß ich ihn manchmal zum Arzt fuhr, wenn ich
nachmittags nicht viele Lehrveranstaltungen hatte. Ich haßte diese Praxis; sie erinnerte mich immer an ein Bestattungsinstitut. Josh ging ins Behandlungszimmer.
Manchmal konnte man ihn weinen hören. An anderen Tagen konnte man gar nichts hören. Fünfzig Minuten später kam er wieder heraus. Ich wartete immer darauf, daß er eines Tages aus dieser Tür heraustreten und wieder so sein würde, wie er einmal gewesen war.«
»Manchmal ist es für die Familie genauso schlimm oder 412
sogar noch schlimmer als für den Patienten«, sagte Tess.
Sie ließ ihre Hand in der Nähe der seinen, damit er die Möglichkeit hatte, sie zu ergreifen, falls ihm danach war.
»Man fühlt sich hilflos, obwohl man so gern helfen möchte … und ist verwirrt, obwohl es dringend
erforderlich wäre, klar zu denken.«
»Meine Mutter brach eines Tages zusammen. Es war an einem Sonntag. Sie hatte Schmorbraten gemacht. Ganz plötzlich kippte sie das Essen einfach in den Ausguß.
Wenn er Krebs hätte, sagte sie, würden sie eine Möglichkeit finden, das Gewächs aus ihm
herauszuschneiden. Können sie nicht sehen, daß ihn innerlich etwas zerfrißt? Warum finden sie keine Möglichkeit, das aus ihm herauszuschneiden?«
Er starrte in sein Glas und hatte das Bild seiner Mutter, die schluchzend an der Spüle stand, so deutlich vor Augen, als sei das Ganze erst gestern geschehen.
»Eine Zeitlang schien es ihm tatsächlich besser zu gehen. Da er in psychiatrischer Behandlung war und oft den Arbeitsplatz gewechselt hatte, war es schwer für ihn, einen Job zu finden. Unser Pfarrer übte ein bißchen Druck aus, indem er den Leuten nach guter katholischer Manier Schuldgefühle suggerierte, und beschaffte ihm in einer Tankstelle einen Job als Mechaniker. Vor fünf Jahren hatte er ein Stipendium für Notre Dame bekommen, und jetzt wechselte er Zündkerzen aus. Trotzdem war das besser als gar nichts. Die Alpträume ließen nach. Keiner von uns wußte, daß er sich mit Barbituraten vollstopfte, um das zu erreichen. Danach kam Heroin. Auch das bemerkten wir nicht. Vielleicht wäre es anders gekommen, wenn ich öfter zu Hause gewesen wäre, doch ich war auf dem College und legte mich zum erstenmal in meinem Leben richtig ins Zeug. Meine Eltern waren in puncto Drogen völlig unbedarft. Der Arzt merkte auch nichts 413
davon. Er war Major, Berufssoldat, hatte in Korea und Vietnam gedient, bemerkte jedoch nicht, daß Josh sich mit Heroin vollpumpte, um die Nacht durchzustehen.«
Ben fuhr sich mit der Hand durchs Haar, bevor er seinen Brandy austrank. »Ich weiß auch nicht, vielleicht war der Typ überarbeitet oder völlig kaputt. Das Fazit nach zwei Jahren Therapie und unzähligen Votivkerzen und Gebeten zur Heiligen Jungfrau war jedenfalls, daß Josh auf sein Zimmer ging, seine Uniform und seine Orden anlegte und statt nach seiner Spritze zu greifen seinen Armeerevolver lud und allem ein Ende machte.«
»Ben, zu sagen, daß es mir leid tut, reicht bei weitem nicht aus, aber ich kann nichts anderes sagen.«
»Er war erst vierundzwanzig.«
Und du erst zwanzig, dachte sie, doch statt es anzusprechen, legte sie den Arm um ihn.
»Zuerst wollte ich der ganzen U. S.-Armee die Schuld geben, doch dann kam ich zu dem Schluß, daß es sinnvoller wäre, mich auf den Arzt zu konzentrieren, der ihm hatte helfen sollen. Ich erinnere mich noch, wie ich dagesessen habe, als die Polizei oben war, in dem Zimmer, das ich mir früher mit Josh geteilt hatte, und bei mir gedacht habe, daß der Dreckskerl etwas hätte unternehmen müssen. Daß es seine Aufgabe gewesen wäre, Josh zu heilen. Eine Zeitlang dachte ich sogar daran, ihn umzubringen, bis dann der Priester kam und mich ablenkte. Er weigerte sich, für Joshs Seele zu beten.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Es war
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