Verlorene Seelen
…«
In dem Moment ging die Tür auf, und alle wußten, daß es zu spät war.
398
Dr. Bitterman hatte noch seinen Operationskittel an. Den Mundschutz hatte er nach unten gezogen, so daß er an den Bändern herabhing. Der Schweiß daran war noch nicht trocken. Obwohl er nur relativ kurze Zeit im
Operationssaal gewesen war, hatte er einen erschöpften Zug um Augen und Mund. Schon bevor er etwas sagte und auf die Monroes zuging, wußte Tess, daß sie beide einen Patienten verloren hatten.
»Mrs. Monroe, es tut mir leid, aber wir konnten nichts für ihn tun.«
»Joey?« Verständnislos blickte sie erst den Arzt und dann ihren Mann an. Ihre Hand war bereits in Monroes Schulter verkrallt.
»Joey ist tot, Mrs. Monroe.« Da er sich nach der Stunde, die er mit dem Versuch verbracht hatte, den Jungen wieder zusammenzuflicken, elend und deprimiert fühlte, setzte Bitterman sich neben sie. »Er ist gar nicht mehr zu sich gekommen. Er hatte eine schwere Kopfverletzung. Da war nichts mehr zu machen.«
»Joey? Joey ist tot?«
»Es tut mir sehr leid.«
Sie fing an zu schluchzen, indem sie harte, gutturale Laute ausstieß. Sie weinte mit offenem Mund und zurückgelegtem Kopf, ein Bild der Qual und des Schmerzes, bei dem Tess sich der Magen
zusammenkrampfte. Niemand kann das Ausmaß der
Freude ermessen, das eine Mutter empfindet, wenn sie ein Kind zur Welt bringt, und niemand das Ausmaß ihrer Trauer, wenn sie eines verliert.
Ein Denkfehler, das Verlangen, ihre Familie aus eigener Kraft zusammenzuhalten, hatte sie ihren Sohn gekostet.
Tess konnte jetzt nichts mehr für sie tun. Auch für Joey konnte sie nichts mehr tun. Von würgendem Kummer 399
erfüllt, drehte sie sich um und ging aus dem Zimmer.
»Tess.« Ben packte sie beim Arm, als sie sich
anschickte, den Gang hinunterzugehen. »Du bleibst nicht hier?«
»Nein«, antwortete sie mit fester, eisiger Stimme, während sie ihren Weg fortsetzte. »Mein Anblick macht ihren Schmerz nur noch größer, falls das überhaupt möglich ist.« Sie drückte auf den Knopf des Fahrstuhls.
Dann rammte sie ihre Hände in die Taschen, wo sie sich in einem fort zusammenkrampften.
»Das ist alles?« Dumpfer Zorn begann sich in seinem Innern auszubreiten. »Du ziehst einfach einen
Schlußstrich?«
»Es gibt hier nichts mehr für mich zu tun.« Sie trat in den Fahrstuhl und bemühte sich mit aller Kraft, ruhig einund auszuatmen.
Auf dem Heimweg schneite es heftig. Tess sagte kein Wort. Ben, dem bittere Worte auf der Zunge lagen, bewahrte ebenso eisiges Schweigen wie sie. Obwohl die Autoheizung Wärme verströmte, fiel es ihr schwer, nicht zu zittern. Das Gefühl, versagt zu haben, ihr Kummer und ihre Wut waren fest miteinander verschlungen.
Selbstbeherrschung war oft schwer zu erlangen, aber noch nie war sie ihr so wichtig vorgekommen wie jetzt.
Als sie ihr Apartment betraten, war das Stechen in ihrer Brust so stark geworden, daß sie sich bewußt zu jedem Atemzug zwingen mußte. »Es tut mir leid, daß du in diese Sache hineingezogen worden bist«, sagte sie bedächtig.
Sie wollte allein sein, wollte weder ihn noch sonst jemand sehen, bis sie sich wieder gefaßt hatte. Das Pochen in ihrem Kopf wurde allmählich zu einem Dröhnen. »Ich weiß, daß es nicht einfach war.«
»Du scheinst ja bestens damit fertig zu werden.« Mit 400
einem Ruck zog er sich sein Jackett aus und warf es auf einen Stuhl. »Du brauchst dich nicht bei mir zu entschuldigen. Ich habe einen ähnlichen Job wie du, falls du das vergessen haben solltest.«
»Ja, natürlich. Hör mal.« Sie mußte schlucken, um gegen das würgende Gefühl in ihrer Kehle anzukämpfen.
»Ich werde jetzt ein Bad nehmen.«
»Klar, mach mal.« Er ging zur Hausbar und griff nach dem Wodka, den er dort eingelagert hatte. »Ich werde etwas trinken.«
Sie machte sich nicht die Mühe, ins Schlafzimmer zu gehen, um sich umzuziehen. Nachdem sie die Tür leise hinter sich zugemacht hatte, hörte Ben das Geräusch gegen Porzellan plätschernden Wassers.
Während er sich Wodka in ein Glas goß, ging Ben durch den Kopf, daß er den Jungen noch nicht einmal gekannt hatte. Er hatte nicht den geringsten Grund, diesen häßlichen Groll zu verspüren. Man konnte Kummer, Mitleid oder sogar Zorn über den sinnlosen Verlust eines jungen Lebens empfinden, aber es gab keinen Grund für diese hilflose, bebende Wut.
Sie war so gleichgültig gewesen. So gottverdammt ungerührt.
Genau wie Joshs Arzt.
Die Bitterkeit, die seit Jahren in ihm
Weitere Kostenlose Bücher