Verlorene Seelen
steckte, stieg ihm in die Kehle. Ben hob das Glas, um den Geschmack
fortzuspülen, doch dann knallte er es auf die Hausbar, ohne getrunken zu haben. Obwohl er eigentlich nicht recht wußte, was er vorhatte, ging er den Korridor entlang und öffnete die Badezimmertür.
Sie saß nicht in der Wanne.
Brausend strömte das Wasser mit voller Kraft gegen das 401
Porzellan und verschwand strudelnd im Abfluß, den sie nicht verstöpselt hatte. Dampf stieg auf, der Spiegel war bereits beschlagen. Völlig bekleidet lehnte Tess am Waschbecken, die Hände vor dem Gesicht, und weinte hemmungslos.
Einen Moment lang stand Ben stumm in der offenen Tür, zu verblüfft, um hineinzugehen, zu schockiert, um die Tür zu schließen und die Abgeschiedenheit, die sie gesucht hatte, zu respektieren.
Er hatte noch nie erlebt, daß sie ihren Gefühlen hilflos zum Opfer gefallen war. Im Bett kam es manchmal vor, daß sie von ihrer Leidenschaft überwältigt wurde.
Gelegentlich hatte er auch erlebt, daß ihr Zorn aufgewallt war und einen Moment kurz davor gestanden hatte, voll zum Ausbruch zu kommen, doch sie hatte ihn immer gleich gezügelt. Jetzt war er mit Kummer konfrontiert, mit sehr großem Kummer.
Sie hatte ihn nicht die Tür öffnen hören. Langsam wiegte sich ihr Körper hin und her, in einem trauervollen Rhythmus, mit dem sie sich selbst Trost spendete. Bens Kehle schnürte sich zusammen und drängte die Bitterkeit zurück. Er schickte sich an, sie zu berühren, hielt jedoch inne, weil er feststellte, daß es schwer war, sehr, sehr schwer, jemanden zu trösten, der einem wirklich etwas bedeutete.
»Tess.« Als er sie dann tatsächlich berührte, fuhr sie zusammen. Als er die Arme um sie legte, wurde sie steif wie ein Brett. Er spürte, wie sie versuchte, gegen die Tränen anzukämpfen und sich ihm zu entziehen. »Komm, du solltest dich hinsetzen.«
»Nein.« Ein Gefühl der Demütigung befiel ihr bereits geschwächtes Nervensystem. Sie war in einen Moment extremer Niedergeschlagenheit und privatester Gefühle 402
überrascht worden, entblößt und ohne die Kraft, sich zu bedecken. Sie wollte nur allein sein, da sie Zeit brauchte, um wieder zu sich zu kommen. »Bitte, laß mich ein Weilchen allein.«
Das tat weh – ihre Widerspenstigkeit, die Ablehnung des Trostes, den er ihr spenden wollte. Es tat so sehr weh, daß er sich anschickte, sich zurückzuziehen. Doch dann spürte er, wie ein Zittern durch sie ging, ein Zittern, das noch ergreifender, noch mitleiderregender war als ihre Tränen.
Schweigend ging er zur Badewanne und drehte den Hahn zu.
Ihre Hände, die sie vom Gesicht genommen hatte, umklammerten den Rand des Waschbeckens. Ihr Rücken war kerzengerade, als sei sie darauf gefaßt, einen Schlag oder eine helfende Hand abwehren zu müssen. Mit tränenverschleierten Augen sah sie ihn an. Die Haut ihres Gesichts war vom Weinen bereits naß und gerötet. Ohne ein Wort zu sagen und ohne weiter zu überlegen, hob er sie hoch und trug sie auf den Armen aus dem
Badezimmer.
Er erwartete, daß sie sich sträuben oder ihn wütend anfauchen würde. Statt dessen erschlaffte ihr Körper, während sie sich mit dem Gesicht an seinen Hals schmiegte und ihren Tränen freien Lauf ließ.
»Er war doch noch ein Kind.«
Ben setzte sich auf die Bettkante und zog sie an sich.
»Ich weiß.«
»Ich bin nicht an ihn herangekommen, obwohl ich dazu hätte in der Lage sein müssen. Trotz meiner ganzen Ausbildung, trotz Selbstanalyse, trotz Büchern und Vorlesungen bin ich nicht an ihn herangekommen.«
»Du hast es zumindest versucht.«
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»Das reicht nicht.« Die Wut brach aus ihr heraus, voll entwickelt und bösartig, doch das überraschte ihn nicht. Er hatte darauf gewartet, darauf gehofft. »Man erwartet von mir, daß ich heile, daß ich helfe, nicht nur vom Helfen rede. Es ist mir nicht nur mißlungen, seine Behandlung abzuschließen, es ist mir sogar mißlungen, ihn am Leben zu erhalten.«
»Wird von Psychiatern verlangt, daß sie gottähnliche Egos haben?«
Seine Worte wirkten auf sie wie ein Schlag ins Gesicht.
Im Nu war sie aufgesprungen. Die Tränen auf ihrem Gesicht waren noch feucht, ihr Körper zitterte noch, doch sie sah nicht so aus, als würde sie zusammenbrechen.
»Was fällt dir ein, so etwas zu mir zu sagen! Ein Junge ist tot. Er wird nie mehr die Möglichkeit haben, den Führerschein zu machen, sich zu verlieben, eine Familie zu gründen. Er ist tot, und die Tatsache, daß ich verantwortlich bin, hat nichts mit
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