Verlorene Seelen
Fernseher, der oben an der Wand angebracht war. Tess gab Ben mit einem Zeichen zu verstehen, daß er zurückbleiben sollte.
»Mr. Monroe.«
Beim Klang ihrer Stimme richtete sich sein auf die Wand gehefteter Blick zur Tür. Einen Moment lang starrte er sie an, als wisse er nicht, wer sie sei. Dann wallte Schmerz in ihm auf und spiegelte sich kurz und prägnant in seinen Augen wider. Sie konnte seine Gedanken fast hören.
Ich habe Ihnen nicht geglaubt. Ich habe nichts verstanden. Ich hatte keine Ahnung.
Tess fühlte sich davon noch mehr berührt als von den Tränen. Sie ging zu ihnen und setzte sich neben Lois Monroe.
»Sie ist nach oben gegangen, um ihn zu fragen, ob er noch ein Stück Kuchen möchte«, sagte Monroe. »Er … er war verschwunden. Er hatte einen Brief zurückgelassen.«
Da sie erkannte, was nötig war, ergriff Tess seine freie Hand. Er umklammerte sie fest, schluckte und fuhr fort.
»Darin stand, daß es ihm leid tue. Daß er … daß er wünschte, anders sein zu können. Daß jetzt alles besser sein würde und daß er in einem anderen Leben
zurückkommen werde. Jemand hat ihn …« Monroes
Finger schlossen sich wie ein Schraubstock um ihre Hand, während er die Augen schloß und versuchte, sich zu beherrschen. »Jemand hat ihn springen sehen und die 396
Polizei gerufen. Kurz nachdem wir sein Verschwinden entdeckt hatten, sind sie zu uns gekommen. Ich wußte nicht, was ich tun sollte, deshalb habe ich Sie angerufen.«
»Joey wird wieder gesund werden.« Unruhig die Hände ringend, rückte Lois von Tess weg. »Ich habe mich immer um ihn gekümmert. Er wird wieder ganz gesund werden, dann fahren wir zusammen nach Hause.« Die Distanz beibehaltend, drehte sie den Kopf ein Stück zur Seite, um Tess anzusehen. »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß er Sie nicht mehr braucht. Joey braucht weder Sie noch irgendeine Klinik, und er braucht auch keine weitere Behandlung. Man muß ihn einfach ein Weilchen in Ruhe lassen. Er wird wieder ganz gesund werden. Er weiß, daß ich ihn liebe.«
»Ja, das weiß er«, murmelte Tess, während sie Lois’
Hand nahm. Der Puls ging schnell und war schwach.
»Joey weiß, wie sehr Sie sich bemüht haben, daß er es gut hat.«
»Das habe ich. Ich habe mein Bestes getan, um Joey zu beschützen und damit alles besser wird. Ich wollte immer nur, daß Joey glücklich ist.«
»Das weiß ich.«
»Dann sagen sie mir, warum das passiert ist.« Ihre Tränen versiegten. Die bisher zittrige Stimme wurde gehässig. Lois machte sich von ihrem Mann los, um Tess bei den Schultern zu packen. »Sie sollten ihn heilen, Sie sollten ihn gesund machen. Sagen Sie mir, warum mein Junge jetzt blutend auf dem Operationstisch liegt. Sagen Sie mir, warum!«
»Lois, Lois, bitte.« Monroe versuchte sie an sich zu ziehen, doch sie sprang auf und zerrte Tess mit hoch.
Mechanisch machte Ben einen Schritt nach vorn, blieb jedoch stehen, als Tess heftig den Kopf schüttelte.
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»Ich will eine Antwort haben. Verdammt noch mal, ich will, daß Sie mir eine Antwort geben!«
Statt sie zu beschwichtigen, akzeptierte Tess ihren Zorn.
»Er hat sehr gelitten, Mrs. Monroe. Und der Schmerz saß tief, so tief, daß ich nicht herankam.«
»Ich habe getan, was ich konnte.« Obwohl ihre Stimme ruhig, fast gelassen klang, gruben sich ihre Finger tief in Tess’ Arme ein. Am nächsten Tag würde sie dort blaue Flecke haben. »Ich habe alles getan. Er hat nicht mehr getrunken«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Seit Monaten hat er nichts mehr getrunken.«
»Nein, er hat nicht mehr getrunken. Sie sollten sich hinsetzen, Lois.« Tess versuchte, sie auf das Sofa zu manövrieren.
»Ich will mich aber nicht hinsetzen.« Wut, die eigentlich Angst war, brach aus ihr hervor, bis jedes Wort wie ein Peitschenschlag war. »Ich will meinen Sohn. Ich will meinen Jungen. Sie haben immer nur geredet und geredet.
Woche für Woche nur geredet. Warum haben Sie nicht etwas getan? Sie sollten ihn gesund und glücklich machen.
Warum haben Sie das nicht getan?«
»Ich konnte es nicht.« Eine Welle des Kummers
durchströmte sie. »Ich konnte es nicht.«
»Setz dich, Lois.« Monroe, dem ihre Not Kraft verlieh, nahm sie bei den Schultern und bugsierte sie auf das Sofa.
Während er den Arm wieder um sie legte, sah er Tess an.
»Sie haben uns gesagt, daß so etwas geschehen könnte.
Wir haben Ihnen nicht geglaubt. Wir wollten Ihnen nicht glauben. Wenn es nicht zu spät ist, können wir es noch einmal versuchen. Wir können
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