Verlorene Seelen
auf die High-School kommen, deshalb bildete ich mir ein, bereits über alles Bescheid zu wissen, worüber man Bescheid wissen mußte. Ich habe eine ganze Nacht lang mit Josh zusammengesessen und versucht, ihm die Sache auszureden. Natürlich war es schon zu spät, weil er bereits alle Papiere unterschrieben hatte, aber ich dachte, es müsse doch eine Möglichkeit geben, wieder aus 409
der Sache rauszukommen. Ich hielt ihm vor, was für ein Dummkopf er sei, wenn er wegen eines Mädchens drei Jahre seines Lebens wegwerfe. Das Problem dabei war, daß es nicht mehr einzig und allein darum ging. In dem Moment, da Josh sich gemeldet hatte, beschloß er auch, der beste Soldat in der amerikanischen Armee zu werden.
Man hatte bereits mit ihm über eine Ausbildung zum Offizier gesprochen. So, wie Johnson da drüben die Dinge eskalieren ließ, brauchten wir gescheite, tüchtige Offiziere, die die Truppen anführten. So sah Josh sich selbst.«
In dem Moment hörte sie den Schmerz, der in seiner Stimme mitschwang. Tess trat aus dem Licht und setzte sich zu ihm ins Halbdunkel. Als ihre Hand die seine berührte, hielt Ben sie fest, obwohl ihm zuvor nicht klar gewesen war, daß er das brauchte.
»Er fuhr also los.« Er zog kräftig an seiner Zigarette und stieß seufzend den Rauch aus. »Als er in den Bus stieg, war er jung und, man könnte sagen, schön, voller Idealismus und Zuversicht. Seinen Briefen ließ sich entnehmen, daß bei der Grundausbildung alles bestens lief. Die Disziplin, die Anforderungen, die Kameradschaft
– all das gefiel ihm. Er schloß schnell Freundschaften, und in dieser Situation war das nicht anders. Noch nicht einmal ein Jahr später bekam er seinen Marschbefehl nach Vietnam. Ich war bereits auf der High-School,
schummelte mich durch den Mathematikunterricht und versuchte herauszufinden, bei wie vielen Cheerleaderinnen ich landen konnte. Als Josh sich einschiffte, war er Leutnant.«
Er verfiel in Schweigen. Tess saß neben ihm, hielt seine Hand und wartete darauf, daß er fortfuhr.
»Während er drüben war, ging meine Mutter jeden Tag in die Kirche, um eine Kerze anzuzünden und zur Heiligen 410
Jungfrau zu beten, damit sie Fürbitte einlegte, um Joshs Sicherheit zu gewährleisten. Jedesmal, wenn sie einen Brief bekam, las sie ihn so oft, bis sie jedes Wort auswendig wußte. Doch es dauerte nicht lange, bis mit den Briefen eine Änderung vor sich ging. Sie wurden kürzer, der Ton war ein anderer. Er erzählte nichts mehr von seinen Freunden. Erst später erfuhren wir, daß es zwei seiner besten Kameraden auf bestialische Weise im Dschungel erwischt hatte. Das erfuhren wir erst, als er zurückgekommen war und seine Alpträume begannen. Er ist da drüben nicht getötet worden, wahrscheinlich weil meine Mutter genug Kerzen angezündet hat. Trotzdem ist er gestorben. Der Teil seiner Person, der ihn zu dem machte, was er war, ist gestorben. Ich brauche einen Drink.«
Bevor er aufstehen konnte, legte Tess ihm die Hand auf den Arm. »Ich hol’ dir was.« Sie verließ ihn, da sie meinte, daß er ein wenig Zeit brauchte, und schenkte zwei Gläser Brandy ein. Als sie zurückkam, hatte er sich eine neue Zigarette angezündet, sich jedoch nicht von der Stelle gerührt.
»Danke.« Er nahm einen kräftigen Schluck von seinem Brandy. »Damals wurden die Soldaten in der Heimat nicht mehr wie Helden empfangen. Der Krieg war zum Klotz am Bein geworden. Josh kam mit Orden, Belobigungen und einer Zeitbombe im Kopf zurück. Eine Zeitlang schien alles okay zu sein. Er war zwar sehr still und in sich gekehrt, doch wir dachten, daß niemand so etwas durchmachen könne, ohne sich irgendwie zu verändern. Er zog wieder zu uns und suchte sich einen Job. Von einem Studium wollte er nichts wissen. Nun ja, dachten wir alle, er braucht eben ein bißchen Zeit.
Es dauerte fast ein Jahr, bis die Alpträume anfingen, aus denen er jedesmal schreiend und schweißgebadet 411
aufwachte. Er verlor seinen Job. Uns machte er glauben, er habe gekündigt, doch Vati fand heraus, daß er einen Streit vom Zaun gebrochen hatte und gefeuert worden war. Es dauerte ungefähr noch ein weiteres Jahr, bis die Dinge wirklich schlimm wurden. Er schaffte es nicht, einen Job mehr als ein paar Wochen zu behalten. Er fing an, betrunken nach Hause zu kommen oder überhaupt nicht nach Hause zu kommen. Die Alpträume nahmen an
Heftigkeit zu. Als er eines Nachts wieder einen Alptraum hatte und ich versuchte, ihn zu wecken, schlug er mich nieder. Er
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