Verlorene Seelen
fertig?«
Ben schob Tess fast wie einen Schild vor sich her und strebte in Richtung Tür. »Bericht?«
»Verdammt noch mal, Ben …«
»Mache ich morgen, in dreifacher Ausfertigung.« Er brachte sich und Tess aus der Gefahrenzone.
»Schreibarbeiten mögen Sie wohl nicht besonders?«
fragte sie.
Er öffnete die Eingangstür. Der Regen war in ein feines Nieseln übergegangen. »Es gibt andere Dinge bei diesem Job, die wesentlich befriedigender sind.«
»Nämlich?«
Er warf ihr einen unergründlichen Blick zu, während er sie zu seinem Auto führte. »Bösewichte zu fangen.«
Merkwürdigerweise glaubte sie ihm.
Zehn Minuten später betraten sie eine schummrig 43
beleuchtete Bar, in der die Musik aus einer Jukebox kam und die Drinks nicht verwässert waren. Es war keines von Washingtons vornehmsten Nachtlokalen, aber auch keines von seinen schäbigsten. Tess hatte den Eindruck, daß es ein Lokal war, in dem die Stammgäste einander beim Namen kannten und neue Gäste nur nach und nach akzeptiert wurden.
Ben winkte dem Barkeeper lässig zu, wechselte im Flüsterton ein paar Worte mit einer der
Cocktailkellnerinnen und machte im hinteren Teil des Lokals einen freien Tisch ausfindig. Hier war die Musik gedämpft und die Beleuchtung noch schummriger. Der Tisch wackelte ein bißchen, da ein Bein zu kurz war.
Sobald sie Platz genommen hatten, entspannte er sich.
Hier befand er sich auf vertrautem Gelände und wußte, wie er sich zu verhalten hatte. »Was möchten Sie trinken?«
Er erwartete, daß sie irgendeinen feinen Weißwein mit französischem Namen bestellen würde.
»Einen Scotch, pur.«
»Für mich einen Stolichnaya«, sagte er zu der Kellnerin, ohne Tess dabei aus den Augen zu lassen. »Mit Eis.«
Dann wartete er, ohne etwas zu sagen. Das Schweigen wurde immer länger – zehn Sekunden, zwanzig Sekunden.
Ein interessantes Schweigen, dachte er, voll
unausgesprochener Fragen und untergründiger Animosität.
Vielleicht sollte er ihr den Ball zuwerfen. »Sie haben sagenhafte Augen.«
Sie lächelte und lehnte sich entspannt zurück. »Ich hätte erwartet, daß Sie sich etwas Originelleres einfallen lassen.«
»Ed haben Ihre Beine gefallen.«
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»Es überrascht mich, daß er sie von seiner Höhe aus überhaupt sehen konnte. Er ist ganz anders als Sie«, stellte sie fest. »Ich vermute, daß Sie beide ein eindrucksvolles Gespann abgeben. Aber davon einmal abgesehen,
Detective Paris, es würde mich interessieren, warum Sie meinem Beruf mißtrauen.«
»Weshalb wollen Sie das wissen?«
Als ihr Drink kam, trank sie ihn schlückchenweise. Der Whisky wärmte Teile ihres Körpers, die der Kaffee nicht erreicht hatte. »Aus Neugier. Die gehört zu meinem Beruf.
Schließlich haben wir beide einen Job, in dem man nach Antworten sucht und Rätsel löst.«
»Sie meinen, unsere Jobs ähneln sich?« Die Vorstellung brachte ihn zum Grinsen. »Bullen und Seelenklempner.«
»Vielleicht finde ich Ihren Job genauso unerfreulich wie Sie den meinen«, sagte sie sanft. »Aber sie sind beide nötig, solange es Menschen gibt, deren Verhaltensweise nicht dem entspricht, was die Gesellschaft als normal bezeichnet.«
»Ich mag solche abstrakten Definitionen nicht.« Er kippte seinen Drink hinunter. »Ich habe nicht viel Vertrauen zu jemandem, der hinter einem Schreibtisch sitzt und den Leuten im Gehirn herumstöbert, um dann ihre Persönlichkeit in ein Schema einzuordnen.«
»Tja.« Sie nippte erneut an ihrem Drink. Die Jukebox spielte jetzt etwas Verträumtes von Lionel Richie. »Das ist also Ihre Definition eines Psychiaters?«
»Ja.«
Sie nickte. »Ich nehme an, daß Sie sich in Ihrem Beruf auch oft mit Bigotterie herumschlagen müssen.«
Einen Augenblick lang lag ein gefährliches Glitzern in seinen Augen, das jedoch schnell wieder verschwand.
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»Eins zu null für Sie, Frau Doktor.«
Sie trommelte mit dem Finger auf die Tischplatte, das einzige sichtbare Zeichen ihrer Erregung. Er hatte die bewundernswerte Fähigkeit, sich absolut reglos zu verhalten. Das war ihr schon in Harris’ Büro aufgefallen.
Dennoch spürte sie, daß er von Unruhe erfüllt war. Die Art und Weise, wie er sie in Schach hielt, war durchaus bemerkenswert.
»Na schön, Detective Paris, warum sorgen Sie dann nicht für einen Punktausgleich?«
Er ließ seinen Wodka im Glas kreisen und stellte es wieder hin, ohne zu trinken. »Okay. Mag sein, daß Sie für mich jemand sind, der frustrierten Hausfrauen und gestreßten Managern das Geld
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