Verlorene Seelen
verloren?«
Ed schüttelte den Kopf. Er bewunderte ihr methodisches Vorgehen. »Nein. Alle drei waren wie aus dem Ei gepellt.«
»Und die Mordwaffe, das Humerale?«
»War über Kreuz auf der Brust zusammengelegt.«
»Ein ordentlicher Psychotiker«, warf Ben ein.
Tess zog lediglich die Augenbraue hoch. »Sie sind mit einer Diagnose schnell bei der Hand, Detective Paris. Aber statt von ordentlich würde ich eher von ehrfürchtig sprechen.«
Harris schnitt Ben, der etwas entgegnen wollte, das Wort ab, indem er den Finger hob. »Könnten Sie das bitte erklären, Frau Doktor?«
»Ich kann Ihnen natürlich kein detailliertes Täterprofil geben, ohne die Unterlagen genauer studiert zu haben, Captain, aber in groben Zügen läßt sich seine Person, glaube ich, schon umreißen. Der Mörder ist offenbar tief religiös und vermutlich mit den Riten der Kirche bestens vertraut.«
»Dann sind Sie also auf den Priester-Aspekt aus?«
Erneut wandte sie sich Ben zu. »Der Mann mag früher einmal dem geistlichen Stand angehört haben. Vielleicht ist es aber auch einfach nur so, daß die Autorität der Kirche ihn fasziniert oder daß er sie sogar fürchtet. Daß er das Humerale benutzt, ist ein Symbol – für ihn selbst, für uns, sogar für seine Opfer. Es wäre denkbar, daß er es in rebellischer Absicht benutzt, aber das würde ich aufgrund der Mitteilungen, die er hinterläßt, ausschließen. Da die drei Opfer derselben Altersgruppe angehörten, weist alles 38
darauf hin, daß sie irgendeine wichtige weibliche Person in seinem Leben repräsentieren. Seine Mutter, eine Ehefrau, eine Geliebte, eine Schwester. Jemanden, der ihm auf emotionaler Ebene nahestand oder noch immer steht.
Ich vermute, daß ihn diese Person auf irgendeine Weise, die mit der Kirche zu tun hat, enttäuscht hat.«
»Indem sie eine Sünde beging?« Ben stieß eine
Rauchwolke aus.
Er mag ja ein Holzkopf sein, dachte sie, aber dumm ist er nicht. »Für den Begriff Sünde gibt es viele Definitionen«, sagte sie mit kühler Stimme. »Aber Sie haben durchaus recht. Es geht um etwas, das in seinen Augen eine Sünde war, vermutlich eine Sünde sexueller Natur.«
Er haßte die gelassene, unpersönliche Art, in der sie ihre Analyse vortrug. »Dann bestraft er also stellvertretend andere Frauen?«
Sie hörte den Hohn in seiner Stimme und schloß den Schnellhefter. »Nein, er rettet die Frauen.«
Ben öffnete den Mund, dann schloß er ihn wieder. Das ergab durchaus einen Sinn, einen entsetzlichen Sinn.
»Das ist der einzige Aspekt, der absolut klar ist«, sagte Tess, indem sie sich wieder Harris zuwandte. »Das geht aus allen Mitteilungen hervor. Der Mann versteht sich als Retter. Da er keine Gewalt anwendet, würde ich sagen, daß er sie nicht bestrafen will. Wenn es um Rache ginge, würde er brutal und grausam sein und dafür sorgen, daß ihnen bewußt wird, was mit ihnen geschieht. Statt dessen tötet er sie so schnell wie möglich. Dann bringt er ihre Kleidung in Ordnung, legt ehrfürchtig das Humerale über Kreuz und hinterläßt einen Zettel, auf dem steht, daß sie gerettet sind.«
Sie nahm ihre Brille ab und wirbelte sie am Bügel 39
herum. »Er vergewaltigt sie nicht. Höchstwahrscheinlich ist er impotent, von größerer Wichtigkeit ist jedoch, daß eine sexuelle Attacke eine Sünde wäre. Es ist möglich, sogar wahrscheinlich, daß ihm das Töten sexuelle Erleichterung verschafft, aber eher auf vergeistigte Weise.«
»Ein religiöser Fanatiker«, sagte Harris nachdenklich.
»Im Inneren«, erwiderte Tess. »Nach außen hin
funktioniert er wahrscheinlich über lange Zeiträume hinweg ganz normal. Die Morde liegen mehrere Wochen auseinander, was darauf schließen läßt, daß er sich bis zu einem gewissen Grad unter Kontrolle hat. Es kann durchaus sein, daß er einen gewöhnlichen Beruf ausübt, Umgang mit anderen Menschen hat und zur Kirche geht.«
»Zur Kirche.« Ben erhob sich und trat ans Fenster.
»Und zwar regelmäßig, würde ich meinen. Die Kirche ist sein Hauptbezugspunkt. Wenn dieser Mann vielleicht auch kein Priester ist, so nimmt er doch während der Morde die Eigenschaften eines Priesters an. Nach seiner Vorstellung handelt er dann als Geistlicher.«
»Absolution«, murmelte Ben. »Die Sterbesakramente.«
Fasziniert kniff Tess die Augen zusammen. »Genau.«
Ed, der nicht viel über die Kirche wußte, brachte das Gespräch auf ein anderes Thema. »Ein Schizophrener?«
Stirnrunzelnd blickte Tess auf ihre Brille, während sie
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