Verlorene Seelen
Wahrheit. »Sie haben als Kind also Räuber und Gendarm gespielt und dann beschlossen, einfach weiterzuspielen?«
»Ich habe immer Arzt gespielt.« Er hielt neben ihrem Wagen und zog die Bremse an. »Das war sehr lehrreich.«
»Kann ich mir vorstellen. Und warum haben Sie sich statt dessen für den öffentliche Dienst entschieden?«
Darauf hätte er eine schlagfertige oder ausweichende Antwort geben können. Ein Teil seines Erfolgs bei Frauen beruhte darauf, daß er stets solche Antworten parat hatte, begleitet von einem unbekümmerten Lächeln. Aus irgendwelchen Gründen wollte er diesmal jedoch ganz einfach die Wahrheit sagen. »Na gut, dann will ich ebenfalls mit einem Zitat aufwarten. Das Gesetz ist nichts als Papier und Worte, wenn es keine Männer gibt, die es mit dem Schwert durchsetzen.« Mit einem dünnen Lächeln drehte er sich zur Seite und sah, daß sie ihn mit ruhigem Blick musterte.
»Von Papier und Worten halte ich nichts.«
»Aber vom Schwert?«
»So ist es.« Er beugte sich vor, um ihr die Tür zu öffnen.
Dabei berührten sich ihre Körper, doch keiner von ihnen 49
nahm den physischen Kontakt zur Kenntnis. »Ich glaube an Gerechtigkeit, Tess. Das ist viel, viel mehr als Worte, die nur auf dem Papier stehen.«
Nachdenklich saß sie einen Moment lang da. Sie spürte die Gewaltbereitschaft, die in ihm steckte, wenn auch auf geordnete, kontrollierte Weise. Vielleicht konnte man von dressierter Gewaltbereitschaft sprechen, aber trotzdem war es Gewaltbereitschaft. Er hatte ganz sicher schon andere Menschen getötet, etwas, das sie aufgrund ihrer Erziehung und Persönlichkeit strikt ablehnte. Er hatte anderen das Leben genommen und sein eigenes riskiert. Und er glaubte an Recht und Ordnung und Gerechtigkeit, ebenso wie er an das Schwert glaubte.
Er war nicht so simpel, wie sie zunächst angenommen hatte. Eine Menge Dinge, die sie da an einem Abend gelernt hatte. Mehr als genug, dachte sie, und rutschte auf dem Beifahrersitz in Richtung Tür.
»Tja, danke für den Drink, Detective.«
Als sie den Wagen verließ, stieg Ben ebenfalls aus.
»Haben Sie keinen Regenschirm?«
Sie lächelte ihn unbekümmert an, während sie nach ihren Schlüsseln suchte. »Ich habe nie einen dabei, wenn es regnet.«
Mit den Händen in den Hosentaschen kam er zu ihr herübergeschlendert. Aus unerfindlichen Gründen widerstrebte es ihm, sie gehen zu lassen. »Ich frage mich, wie ein Psychiater das wohl interpretieren würde.«
»Sie haben ja auch keinen Schirm dabei. Gute Nacht, Ben.«
Er wußte, daß sie nicht die oberflächliche, superschlaue Intellektuelle war, für die er sie zunächst gehalten hatte.
Als sie schon längst auf dem Fahrersitz saß, stand er immer noch an ihrer Wagentür, ohne sie zu schließen.
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»Ein Freund von mir arbeitet im Kennedy Center. Er hat mir zwei Karten für das Noel-Coward-Stück morgen abend zukommen lassen. Würde Sie das interessieren?«
Es lag ihr auf der Zunge, höflich abzulehnen. Öl und Wasser ließen sich nicht miteinander verbinden. Beruf und Vergnügen auch nicht. »Ja, würde es.«
Da er nicht recht wußte, wie er auf ihre Zusage reagieren sollte, nickte er bloß. »Dann hole ich Sie um sieben ab.«
Nachdem er die Wagentür zugeschlagen hatte, kurbelte sie das Fenster herunter. »Wollen Sie nicht meine Adresse haben?«
Er grinste sie großspurig an, was sie weniger widerlich fand als angebracht gewesen wäre. »Ich bin schließlich Detektiv.«
Als er zu seinem Auto zurückschlenderte, mußte Tess wider Willen lachen.
Gegen zehn hatte der Regen aufgehört. Tess war derart in die Ausarbeitung des Täterprofils vertieft, daß sie weder die Ruhe um sich herum noch das fahle Mondlicht draußen wahrnahm. Daß sie sich unterwegs etwas aus einem Chinarestaurant hatte mitnehmen wollen, war ihr entfallen, und ihr aus einem Roastbeefsandwich bestehendes Abendessen hatte sie nur halb verzehrt und dann vergessen.
Faszinierend. Sie las sich die Berichte noch einmal durch. Faszinierend und gruselig. Sie fragte sich, wie er seine Opfer aussuchte. Alle waren sie blond, alle Ende Zwanzig, alle klein bis mittelgroß. Wen symbolisierten sie für ihn, und was steckte dahinter?
Beobachtete er sie, verfolgte er sie? Suchte er sie sich willkürlich aus? Vielleicht waren die Haarfarbe und die 51
Körpergröße nur Zufall. Jeder Frau, die nachts allein unterwegs war, konnte es passieren, daß sie gerettet wurde.
Nein. Dem Ganzen lag ein bestimmtes Schema
zugrunde, dessen war sie
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