Verlorene Seelen
aus der Tasche zieht. Alles läßt sich auf Sex oder Mutterhaß zurückführen. Sie beantworten Fragen mit Fragen und bleiben immer ganz cool. Fünfzig Minuten verstreichen, dann kommt der nächste Fall dran. Wenn jemand wirklich Hilfe braucht, wenn jemand verzweifelt ist, dann wird das ignoriert. Sie kleben ein Etikett drauf, heften das Ganze ab, und weiter geht’s mit der nächsten Sitzung.«
Einen Moment lang sagte sie nichts, weil sie hörte, daß sich Kummer hinter seinem Zorn verbarg. »Das muß ein sehr schlimmes Erlebnis gewesen sein«, murmelte sie.
»Das tut mir leid.«
Unruhig rutschte er auf seinem Sitz hin und her. »Keine Analyse, bitte«, erinnerte er sie.
Ein sehr schlimmes Erlebnis, dachte sie erneut. Aber er war kein Mensch, der Mitgefühl haben wollte. »Na schön, dann lassen Sie uns die Sache von einer anderen Seite angehen. Sie sind Beamter im Morddezernat. Ich stelle mir vor, daß Sie den ganzen Tag nichts anderes tun, als durch dunkle Gassen zu schleichen und herumzuballern. Am 46
Vormittag weichen Sie ein paar Kugeln aus, am
Nachmittag legen Sie dem Verdächtigen Handschellen an, lesen ihm seine Rechte vor und nehmen ihn zum Verhör mit. Ist Ihnen das allgemein genug?«
Ohne es zu wollen, mußte er lächeln. »Sie sind ganz schön clever, wie?«
»Das sagt man mir jedenfalls nach.«
Es war nicht seine Art, über jemanden, den er nicht kannte, ein kategorisches Urteil zu fällen. Sein angeborener Sinn für Fairneß kämpfte mit einem seit langem bestehenden, tief sitzenden Vorurteil. Er gab der Kellnerin ein Zeichen, weitere Drinks zu bringen. »Wie heißen Sie eigentlich mit Vornamen? Ich habe es satt, Sie Dr. Court zu nennen.«
»Ihr Vorname ist Ben.« Sie lächelte ihn auf eine Weise an, die seinen Blick wieder auf ihren Mund lenkte.
»Teresa.«
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »So nennt man Sie nicht. Teresa ist zu alltäglich. Terry hat nicht genug Klasse.«
Sie beugte sich vor und legte das Kinn auf ihre gefalteten Hände. »Vielleicht sind Sie doch ein guter Detektiv. Man nennt mich Tess.«
»Tess«, sagte er langsam, um das Wort auszukosten.
Dann nickte er. »Sehr hübsch. Sagen Sie, Tess, warum sind Sie Psychiaterin geworden?«
Sie sah ihn ein Weilchen an und bewunderte die legere Weise, wie er auf seinem Stuhl saß. Nicht daß er sich irgendwie hingelümmelt hätte. Er saß einfach entspannt da.
Das beneidete sie. »Aus Neugier«, sagte sie wieder.
»Die menschliche Psyche gibt viele Rätsel auf. Ich 47
wollte die Antworten darauf. Wenn man die Antworten findet, kann man helfen, wenigstens manchmal. Den Geist heilen heißt, dem Herzen Erleichterung verschaffen.«
Das beeindruckte ihn. Die Einfachheit des Ganzen.
»Dem Herzen Erleichterung verschaffen«, wiederholte er und dachte an seinen Bruder. Seinem Herzen hatte niemand Erleichterung verschaffen können. »Sie glauben also, wenn man das eine heilt, kann man dem anderen Erleichterung verschaffen?«
»Das ist alles eins.« Tess blickte an ihm vorbei und beobachtete ein Pärchen, das lachend über einem Bierkrug die Köpfe zusammensteckte.
»Ich dachte, Sie werden nur dafür bezahlt, in Köpfe zu schauen.«
Sie verzog ein wenig die Lippen, obwohl sie immer noch an ihm vorbeisah. »Geist, Herz und Seele. Kannst nichts ersinnen für ein krank Gemüt? Tief wurzelnd Leid aus dem Gedächtnis reuten? Die Qualen löschen, die ins Hirn geschrieben? Und mit Vergessene süßem Gegengift die Brust entledigen jener giftigen Last, die schwer das Herz bedrückt?«
Während sie sprach, blickte er von seinem Drink auf.
Obwohl ihre Stimme nicht lauter wurde, hörte er nichts mehr von der Musik, dem Lachen und dem sonstigen Lärm um sich herum.
»Macbeth.« Als sie ihn anlächelte, zuckte er die Achseln. »Auch Polizisten lesen Bücher.«
Tess hob ihr Glas, wie um einen Trinkspruch
auszubringen. »Vielleicht sollten wir beide unsere Ansichten revidieren.«
Als sie zum Parkplatz der Polizeizentrale zurückfuhren, 48
nieselte es noch immer. Das trübe Wetter hatte die Dunkelheit schnell hereinbrechen lassen. In den Pfützen spiegelte sich das Licht der Straßenlaternen wider, die Bürgersteige waren naß und menschenleer. Erst jetzt stellte sie ihm die Frage, die ihr den ganzen Abend im Kopf herumgegangen war.
»Ben, warum sind Sie Polizist geworden?«
»Das habe ich doch schon gesagt. Es macht mir Spaß, Bösewichte zu fangen.«
Darin steckt ein Körnchen Wahrheit, dachte sie, es ist aber nicht die ganze
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