Verlorene Seelen
sich sicher. Aus irgendeinem Grund wählte er jedes Opfer wegen der äußeren
Erscheinung aus. Dann schaffte er es irgendwie, ihre Lebensgewohnheiten herauszufinden. Drei Morde, ohne daß er einen einzigen Fehler gemacht hatte. Er war zwar krank, ging aber methodisch vor.
Blond, Ende Zwanzig, klein bis mittelgroß. Sie ertappte sich dabei, wie sie ihr Spiegelbild anstarrte, das undeutlich im Fenster zu sehen war. Hatte sie sich nicht gerade selbst beschrieben?
Als es plötzlich an der Tür ihres Apartments klopfte, fuhr sie zusammen, was ihr schon im nächsten Moment ziemlich albern vorkam. Sie blickte zum erstenmal, seit sie am Schreibtisch Platz genommen hatte, auf die Uhr und stellte fest, daß sie drei Stunden ohne Unterbrechung gearbeitet hatte. Noch zwei Stunden, dann hätte sie vielleicht etwas, das sie Captain Harris vorweisen konnte.
Wer auch immer vor der Tür stand, er würde sich kurz fassen müssen.
Nachdem sie ihre Brille auf den Aktenstapel geworfen hatte, ging sie zur Tür und öffnete sie. »Großpapa.« Ihre ganze Verärgerung verflog, als sie sich auf die Zehenspitzen stellte, um ihn mit jenem Enthusiasmus zu küssen, der dank ihm ihr Leben erfüllte. Er roch nach Pfefferminz und Old Spice und hatte eine Haltung wie ein General. »Du bist ja noch spät unterwegs.«
»Spät?« Seine Stimme dröhnte. Das hatte sie immer getan. Zu Hause in der Küche, wenn er Fische briet, bei einem Baseballspiel, wenn er je nach Laune ein 52
bestimmtes Team anfeuerte, im Sitzungssaal des Senats, wo er seit fünfundzwanzig Jahren der Nation diente. »Es ist noch nicht mal zehn. So weit ist es noch nicht mit mir gekommen, daß ich eine Decke über den Knien brauche und warme Milch trinken muß, Mädel. Gib mir einen Drink.«
Er stand bereits in der Wohnung und entledigte sich seines Mantels. Er hatte die Statur eines Streckenarbeiters und war sechs Fuß groß. Als Tess einen Blick auf seine wilde weiße Haarmähne und sein wettergegerbtes Gesicht warf, fiel ihr ein, daß er schon zweiundsiebzig war.
Zweiundsiebzig, und dabei hatte er mehr Energie als die Männer, mit denen sie manchmal ausging. Und
interessanter als jene war er ganz sicher. Vielleicht war sie deshalb immer noch unverheiratet und mit diesem Zustand zufrieden, weil ihre Maßstäbe in puncto Männer so hoch waren. Sie goß ihm drei Fingerbreit Scotch ein.
Er blickte zum Schreibtisch hinüber, der mit
Schriftstücken, Schnellheftern und Notizzetteln übersät war. So ist sie, meine Tess, dachte er bei sich, als sie ihm das Glas reichte. Immer mit Eifer bei der Sache, wenn es einen Job zu erledigen gab. Das angebissene Sandwich entging ihm auch nicht. Das war ebenfalls typisch für sie.
»Na«, sagte er und nahm einen großen Schluck Scotch,
»was kannst du mir von dem Irren erzählen, mit dem wir uns herumschlagen müssen?«
»Aber Herr Senator«, erwiderte Tess in ihrem
profihaftesten Tonfall, während sie sich auf die Armlehne eines Sessels setzte, »du weißt doch, daß ich nicht mit dir darüber sprechen darf.«
»Quatsch! Schließlich habe ich dir den Job besorgt.«
»Wofür ich mich nicht bei dir bedanken werde.«
Er sah sie mit seinem durchdringenden Blick an. Es war 53
schon vorgekommen, daß abgebrühte Politiker bei diesem Blick in die Knie gegangen waren. »Der Bürgermeister wird mir sowieso alles erzählen.«
Statt in die Knie zu gehen, schenkte Tess ihm ihr süßestes Lächeln. »Dann soll er.«
»Der Teufel hole deine ethischen Grundsätze«, brummte er.
»Die hast du mir beigebracht.«
Er stieß ein Knurren aus, obwohl er mit ihr zufrieden war. »Was hältst du von Captain Harris?«
Sie saß einen Moment lang da und grübelte vor sich hin, wie sie es immer tat, wenn sie ihre Gedanken ordnete.
»Ich halte ihn für kompetent und diszipliniert. Er ist wütend und frustriert und steht unter großem Druck, schafft es aber, alles unter Kontrolle zu halten.«
»Was ist mit den Polizisten, die den Fall bearbeiten?«
»Paris und Jackson.« Sie fuhr sich mit der Zungenspitze über die Zähne. »Meiner Ansicht nach ein ungewöhnliches Team, aber auf jeden Fall ein Team. Jackson sieht aus wie ein Mann aus den Bergen. Er hat die üblichen Fragen gestellt, kann aber auch sehr gut zuhören. Er ist, glaube ich, der methodische Typ. Paris …« Sie zögerte, da sie sich hier auf weniger sicherem Terrain bewegte. »Ihm fehlt die innere Ruhe, und er ist nach meinem Dafürhalten unbeständiger. Er ist intelligent, handelt aber eher
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