Verlorene Seelen
Zugang gefunden hatte.
Es war bedauerlich, daß sie, statt eine Vertraute, eine Art Klagemauer oder einfach nur ein leeres Blatt Papier für ihn zu sein, lediglich eine weitere Autoritätsfigur in seinem Leben darstellte. Wenn er bloß einmal aus sich herausgegangen wäre, sie angeschrien oder mit ihr gestritten hätte, dann hätte sie das Gefühl gehabt, daß die Sitzungen Fortschritte machten. Doch er war bei allen Sitzungen unverändert höflich und teilnahmslos.
83
»Was macht die Schule, Joey?«
Er zuckte noch nicht einmal die Achseln. Es war, als könne selbst diese Bewegung etwas von den Gefühlen verraten, die er so fest in sich verschlossen hatte. »Ist schon okay?«
»Okay? Ich hätte gedacht, daß es ziemlich happig ist, die Schule zu wechseln.« Sie hatte versucht, das zu verhindern, und alles in ihrer Macht Stehende getan, um seine Eltern davon abzubringen, in dieser Phase seiner Therapie solch einen dramatischen Schritt zu
unternehmen. Schlechte Gesellschaft, hatten sie gesagt.
Sie würden ihn dem Einfluß derjenigen entziehen, die dafür verantwortlich waren, daß er angefangen hatte zu trinken, kurze Zeit Drogen genommen und mit dem Okkulten geliebäugelt hatte; letzteres freilich eher mit unguten Gefühlen. Seine Eltern hatten es lediglich geschafft, ihn sich zu entfremden und seine Selbstachtung noch mehr zu untergraben.
Es waren nicht seine Kameraden, ob nun schlechte oder sonstige, gewesen, die Joey dazu gebracht hatten, sich auf diese Trips zu begeben, sondern seine eigenen, immer stärker werdenden Depressionen, seine Suche nach einer Antwort, von der er annehmen konnte, daß sie ganz allein seine Antwort war.
Weil sie keine Joints mehr in seinen Schrankschubladen fanden und weil er nicht mehr nach Alkohol roch, glaubten seine Eltern zuversichtlich, daß er sich allmählich wieder fing. Sie konnten oder wollten nicht wahrhaben, daß es nach wie vor mit ihm abwärts ging, und zwar rapide. Er hatte einfach gelernt, das Ganze zu verinnerlichen.
»Es kann sehr aufregend sein, auf eine neue Schule zu gehen«, fuhr Tess fort, als sie keine Antwort erhielt. »Aber 84
es ist schwierig, der Neue zu sein.«
»Das ist keine große Sache«, murmelte er und starrte weiterhin auf seine Knie.
»Freut mich zu hören«, erwiderte sie, obwohl sie wußte, daß er log. »Als ich etwa in deinem Alter war, mußte ich auch die Schule wechseln und hatte eine Heidenangst.«
Da blickte er auf, nicht weil er ihr glaubte, sondern weil sein Interesse geweckt war. Er hatte dunkelbraune Augen, die eigentlich äußerst ausdrucksvoll hätten sein müssen.
Statt dessen blickten sie jedoch zurückhaltend und argwöhnisch drein. »Kein Grund, Angst zu haben, ist ja nur eine Schule.«
»Warum erzählst du mir dann nicht etwas darüber?«
»Ist eben eine Schule.«
»Wie ist es mit den anderen Kindern? Irgend jemand Interessantes dabei?«
»Die meisten sind blöde.«
»Ach? Wie das?«
»Sie stehen immer nur zusammen herum. Es gibt
niemanden, den ich kennenlernen möchte.«
Niemanden, den er kannte, korrigierte Tess im stillen.
Das letzte, was er an diesem Punkt brauchte, war, sich von der neuen Umgebung zurückgewiesen zu fühlen, nachdem er die Schulkameraden, an die er gewöhnt war, verloren hatte. »Es dauert einige Zeit, bis man Freunde gewinnt, Freunde, die zählen. Es ist schwerer, allein zu sein, Joey, als zu versuchen, Freunde zu finden.«
»Ich wollte ja nicht die Schule wechseln.«
»Ich weiß.« Bei dieser Sache stand sie ganz auf seiner Seite. Irgend jemand mußte schließlich auf seiner Seite stehen. »Und ich weiß, wie schlimm es ist, das Gefühl zu haben, man würde von den Leuten, die die Regeln 85
festlegen, willkürlich hin und her geschoben. Aber ganz so ist das nicht, Joey. Deine Eltern haben beschlossen, dich auf eine neue Schule zu schicken, weil sie dein Bestes wollen.«
»Sie wollten aber nicht, daß sie mich von der alten Schule nehmen.« Wieder blickte er auf, doch so rasch, daß sie kaum die Farbe seiner Augen wahrnehmen konnte.
»Ich habe gehört, wie Mutti davon gesprochen hat.«
»Als deine Ärztin war ich der Ansicht, daß du dich auf deiner alten Schule vielleicht wohler fühlst. Deine Mutter liebt dich, Joey. Die Umschulung war keine Bestrafung, sondern sie hat damit auf ihre Weise versucht, dir zu helfen.«
»Sie wollte nicht, daß ich mit meinen Freunden zusammen bin.« Das sagte er, ohne verbittert zu klingen.
Er nahm die Sache einfach hin, denn ihm blieb nichts
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