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Verlorene Seelen

Verlorene Seelen

Titel: Verlorene Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Roberts
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hinunter. Ein Problem, dachte er bei sich.
    Ein verdammt großes Problem.

    Er war stundenlang spazierengegangen. Als er sein Apartment betrat, konnte er sich vor Müdigkeit kaum noch aufrecht halten. In den letzten Monaten hatte er nur schlafen können, ohne zu träumen, wenn er total erschöpft war.
    Es war nicht nötig, das Licht anzuschalten; er kannte den Weg. Ohne seinem Bedürfnis, sich auszuruhen,
    nachzugeben, ging er an seinem Schlafzimmer vorbei. Der Schlaf würde sich erst einstellen, wenn er diese letzte Pflicht erfüllt hatte. Das weiter hinten liegende Zimmer war immer verschlossen. Als er die Tür öffnete, atmete er den schwachen, lieblichen Duft der frischen Blumen ein, die er jeden Tag ins Zimmer stellte. Neben der Tür des Wandschranks hing die Priestersoutane, von der sich das darüber drapierte weiße Humerale kraß abhob.
    Nachdem er ein Streichholz entzündet hatte, steckte er die erste Kerze an, dann noch eine und noch eine, bis die Schatten über das makellose Weiß des Altartuchs tanzten.
    In einem Silberrahmen stand dort das Bild einer jungen Frau, blond und lächelnd. Für alle Zeiten war sie auf dem Bild festgehalten, jung, unschuldig und glücklich.
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    Rosafarbene Rosen waren ihre Lieblingsblumen
    gewesen, und es war ihr Duft, der sich mit dem der brennenden Kerzen vermischte.
    Drei kleinere Rahmen enthielten die sorgfältig aus der Zeitung ausgeschnittenen Fotos von drei anderen Frauen.
    Carla Johnson, Barbara Clayton, Francie Bowers. Er faltete die Hände und kniete vor ihnen nieder.
    Es gibt noch so viele andere, dachte er. So viele. Er hatte gerade erst angefangen.
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    Still und mürrisch saß der Junge Tess gegenüber. Er zappelte nicht hin und her, und er schaute auch nicht aus dem Fenster. Er tat überhaupt selten etwas. Statt dessen saß er auf dem Stuhl und starrte auf seine Knie. Seine Hände lagen flach auf seinen Schenkeln, die Finger waren schlank, die Knöchel ein wenig vergrößert, da er die Angewohnheit hatte, nervös mit den Fingern zu knacken.
    Die Nägel waren völlig abgekaut. All dies Anzeichen einer nervösen Störung. Doch es gibt viele Menschen, die durchaus imstande sind, ihr Leben zu meistern, obwohl sie dauernd mit den Fingern knacken und an sich
    herumkauen.
    Es kam selten vor, daß er die Person, mit der er sprach –
    oder, wie man in seinem Fall eher sagen mußte, die zu ihm sprach –, ansah. Jedesmal, wenn Tess es schaffte, Blickkontakt mit ihm aufzunehmen, empfand sie ein leises Gefühl des Triumphs, aber auch einen leisen Schmerz. Da er früh gelernt hatte, sich abzuschotten und seine Gefühle zu verbergen, vermochte sie nur wenig in seinen Augen zu lesen. Was sie bei diesen seltenen, raschen Blickkontakten sah, war weder Groll noch Angst, sondern lediglich eine Spur von Langeweile.
    Das Leben war zu Joseph Higgins junior nicht fair gewesen, und er wollte nicht das Risiko eingehen, einen weiteren Tiefschlag zu bekommen. Wenn man so alt war wie er, hatten die Erwachsenen das Sagen, und es blieb einem gar nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Um sich dagegen zu wehren, zog er sich in sich selbst zurück und lehnte es ab, mit anderen zu kommunizieren. Tess kannte die Symptome. Ein Mangel an Gefühlsäußerungen, ein 82
    Mangel an Motivation, ein Mangel an Interesse. Ein Mangel.
    Auf irgendeine Weise mußte sie den Punkt finden, an dem sie den Hebel ansetzen konnte, um ihn aus seiner Gleichgültigkeit zu reißen – zunächst aus der
    Gleichgültigkeit gegenüber sich selbst, dann gegenüber seiner Umwelt.
    Er war zu alt, als daß sie Spiele mit ihm machen, zu jung, als daß sie sich auf der Erwachsenenebene mit ihm auseinandersetzen konnte. Sie hatte beides versucht, und er hatte beides abgelehnt. Joey Higgins saß auf einer Zwischenebene fest. Für ihn war die Adoleszenz nicht nur unangenehm und schwierig, sondern eine einzige Misere.
    Er trug Jeans, gute, solide Jeans, die überschwenglich in Werbespots angepriesen wurden, und ein graues
    Sweatshirt, auf dessen Brust eine Maryland-Schildkröte grinste. Seine hohen ledernen Turnschuhe waren neu und entsprachen der derzeitigen Mode. Seine hellbraunen Haare hatten einen moderaten Bürstenschnitt und umrahmten ein zu schmales Gesicht. Nach außen hin sah er aus wie ein ganz normaler vierzehnjähriger Junge.
    Alles, was dazugehörte, war da. Sein Inneres jedoch war ein chaotisches, von Selbsthaß und Bitterkeit geprägtes Durcheinander, zu dem Tess, wie sie wußte, noch nicht einmal ansatzweise

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