Verlorene Seelen
daß es ein paar gibt.« Dabei deutete sich auf seinen Lippen tatsächlich ein ganz schwaches Lächeln an.
»Ich achte nicht viel darauf.«
»Na, damit hat es ja auch noch Zeit. Kommst du nächste Woche wieder zu mir?«
»Glaub schon.«
»Würdest du mir in der Zwischenzeit einen Gefallen tun? Ich habe gesagt, daß du gute Augen hast. Dann sieh dir deine Mutter und deinen Stiefvater einmal an.« Er drehte den Kopf weg, doch sie nahm seine Hand und hielt sie fest. »Joey …« Sie wartete, bis er sie wieder mit seinen dunklen, unergründlichen Augen anblickte. »Sieh sie dir an. Sie versuchen, dir zu helfen. Selbst wenn sie dabei vielleicht Fehler machen, sie versuchen es, weil du ihnen am Herzen liegst. Viele Menschen machen Fehler. Du hast doch noch meine Telefonnummer, oder?«
89
»Ja, glaub schon.«
»Du weißt, daß du mich jederzeit anrufen kannst, falls du vor nächster Woche mit mir sprechen möchtest.«
Sie begleitete ihn zur Tür ihres Büros und sah, wie sein Stiefvater aufstand und Joey mit einem breiten, offenen Lächeln empfing. Er war Geschäftsmann – erfolgreich, unbeschwert und mit guten Manieren. Das genaue Gegenteil von Joeys Vater. »Na, alles überstanden?« Dann sah er Tess an, und das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht, in dem sich nur noch nervöse Spannung ausdrückte. »Wie ist es heute gelaufen, Dr. Court?«
»Bestens, Mr. Monroe.«
»Das ist gut, das ist gut. Warum nehmen wir unterwegs nicht was vom Chinesen mit, Joey, und überraschen deine Mutter.«
»Okay.« Er schlüpfte in seine Schuljacke – die Jacke der Schule, die er nicht mehr besuchte. Ohne sie zuzumachen, drehte er sich um und sagte, indem er an Tess
vorbeiblickte: »Wiedersehn, Dr. Court.«
»Auf Wiedersehn, Joey. Bis nächste Woche.«
Sie geben ihm zu essen, dachte sie, als sie ihre Bürotür schloß, und er hungert. Sie kleiden ihn, aber ihm ist trotzdem kalt. Sie besaß den Schlüssel zu allem, doch sie mußte es erst noch schaffen, ihn im Schloß umzudrehen, um es zu öffnen.
Seufzend ging sie zu ihrem Schreibtisch zurück.
»Dr.
Court?« Tess drückte auf die Taste der
Gegensprechanlage, während sie die Akte Joey Higgins in die neben dem Schreibtisch stehende Aktentasche steckte.
»Ja, Kate.«
»Während der Sitzung hatten Sie drei Anrufe. Einen von der Washington Post, einen von der Sun und einen vom 90
WTTG.«
»Drei Reporter?« Tess nahm ihren Ohrring ab und massierte sich das Ohrläppchen.
»Alle drei wollten wissen, ob es stimmt, daß Sie an der Untersuchung der Priester-Morde mitarbeiten.«
»Verdammt.« Sie warf ihren Ohrring auf die
Schreibunterlage. »Ich bin nicht da, falls deswegen noch mal jemand anruft, Kate.«
»In Ordnung.«
Mit langsamen Bewegungen befestigte sie den Ohrring wieder. Man hatte ihr Anonymität zugesagt. Das gehörte zu der Abmachung, die sie mit dem Bürgermeister getroffen hatte. Keine Medien, kein großer Rummel, kein Kommentar. Der Bürgermeister persönlich hatte ihr zugesichert, daß sie ohne Druck von Seiten der Presse würde arbeiten können. Sinnlos, dem Bürgermeister die Schuld zu geben, dachte Tess bei sich, als sie aufstand, um zum Fenster zu gehen. Das Ganze war nun mal
durchgesickert, und sie würde damit fertig werden müssen.
Sie mochte Publicity nicht. Das war ihr Problem. Sie wollte, daß ihr Leben unkompliziert und ohne Störungen von außen verlief. Das war ebenfalls ihr Problem. Ihr gesunder Menschenverstand hatte ihr gesagt, daß die ganze Angelegenheit früher oder später sowieso herauskommen würde. Dennoch hatte sie die Aufgabe übernommen. Ihren Patienten hätte sie in einer solchen Situation den Rat gegeben, der unabänderlichen Tatsache ins Auge, zu sehen und sich Schritt für Schritt damit zu befassen.
Draußen wurde der Nachmittagsverkehr allmählich lebhafter. Hier und da wurde lautstark gehupt, doch das Fenster und die Entfernung dämpften die Geräusche.
91
Irgendwo da draußen war Joey Higgins, der mit seinem Stiefvater zum Chinesen fuhr, mit seinem Stiefvater, dem zu vertrauen oder den zu lieben er sich nicht durchringen konnte. In den Bars stellte man sich auf die Gäste ein, die vor dem Dinner schnell noch etwas trinken wollten. Die Kindertagesstätten leerten sich, und unzählige arbeitende Mütter, alleinerziehende Eltern und entnervte Vatis verfrachteten ihre Kinder im Vorschulalter ins Auto und schlängelten sich mit ihren Volvos und BMWs durch dichte Reihen anderer Volvos und BMWs. Sie alle hatten nur einen
Weitere Kostenlose Bücher