Verlorene Seelen
Gedanken im Kopf: nach Hause zu kommen, in die Geborgenheit und Wärme ihrer vertrauten Umgebung.
Es war unwahrscheinlich, daß irgendeiner von ihnen auch nur einen Gedanken an all die anderen um ihn herum verschwendete. Zum Beispiel an jemanden, in dessen Kopf eine kleine, tödliche Bombe tickte.
Einen Moment lang wünschte sie, an dieser angenehmen allabendlichen Routine teilhaben zu können, wünschte, zu den Menschen zu gehören, die nur übers Abendessen oder die Zahnarztrechnung nachzudenken brauchten. Doch die Unterlagen über die Priester-Morde steckten bereits in ihrer Aktentasche.
Tess ging zum Schreibtisch zurück und nahm ihre Aktentasche an sich. Der nächste Schritt bestand darin, nach Hause zu fahren und dafür zu sorgen, daß alle Anrufe, die sie bekam, von ihrem
Anrufbeantwortungsdienst abgefangen wurden.
»Wer hat die Sache ausgequatscht?« fragte Ben und stieß Zigarettenrauch aus.
»Das versuchen wir noch herauszufinden.« Harris stand hinter seinem Schreibtisch und musterte die Beamten, die der Spezialeinheit zugeteilt waren. Ed lümmelte sich auf 92
einem Stuhl und reichte einen Beutel mit
Sonnenblumenkernen herum. Bigsby, mit seinem großen roten Gesicht und den kräftigen Händen, wippte mit dem Fuß. Lowenstein stand, die Hände in den Taschen, neben Ben. Roderick saß kerzengerade auf seinem Stuhl, die Hände im Schoß gefaltet. Ben sah so aus, als würde er beim ersten falschen Wort die Zähne fletschen.
»Wir müssen uns auf die neue Situation einstellen. Die Presse weiß, daß Dr. Court mit dem Fall zu tun hat. Statt den Presseleuten Hindernisse in den Weg zu legen, benutzen wir sie.«
»Die Presse hat uns wochenlang zugesetzt, Captain«, warf Lowenstein ein. »Die Lage fing gerade an, sich ein bißchen zu entspannen.«
»Ich lese auch Zeitung, Detective«, sagte er mit sanfter Stimme. Bigsby rutschte auf seinem Stuhl hin und her, Roderick räusperte sich, und Lowenstein machte fest den Mund zu.
»Wir werden morgen früh eine Pressekonferenz geben.
Das Büro des Bürgermeisters setzt sich mit Dr. Court in Verbindung. Paris, Jackson – als Leiter des Teams will ich euch dabeihaben. Ihr wißt, welche Informationen wir für die Presse freigegeben haben.«
»Wir können denen nichts Neues erzählen, Captain«, sagte Ed mit Nachdruck.
»Dann erzählt es so, daß es neu klingt. Dr. Courts Anwesenheit müßte eigentlich ausreichen, um sie zufriedenzustellen. Vereinbart ein Treffen mit diesem Monsignore Logan«, fügte er hinzu, indem er Ben wieder anblickte.
»Und sorgt dafür, daß nichts davon bekannt wird.«
»Noch ein Seelenklempner.« Ben drückte seine Zigarette aus. »Schon der erste hat uns nichts sagen können, was wir 93
nicht schon wußten.«
»Dr. Court hat uns gesagt, daß der Mörder glaubt, eine Mission erfüllen zu müssen«, bemerkte Lowenstein mit ruhiger Stimme. »Und daß er sie wahrscheinlich noch nicht beendet hat, auch wenn er sich eine Zeitlang ruhig verhalten hat.«
»Sie hat uns gesagt, daß er junge blonde Frauen umbringt«, entgegnete Ben barsch. »Das hatten wir auch schon rausgefunden.«
»Nun hör doch auf, Ben«, murmelte Ed, der wußte, daß Bens Zorn sich auf diese Weise gegen ihn richten würde.
»Hör lieber selber auf.« Bens in den Hosentaschen steckende Hände ballten sich zu Fäusten. »Dieser Mistkerl wartet bloß darauf, die nächste Frau, die sich zur falschen Zeit am falschen Ort befindet, erdrosseln zu können, und wir sitzen rum und unterhalten uns mit Psychiatern und Priestern. Seine Seele oder seine Psyche ist mir scheißegal.«
»Vielleicht sollte sie das aber nicht sein.« Roderick sah erst den Captain und dann Ben an. »Schau mal, ich weiß, wie dir zumute ist, wie uns wohl allen zumute ist. Wir wollen ihn einfach schnappen. Aber wir alle haben Dr. Courts Täterprofil gelesen. Wir haben es hier nicht mit jemanden zu tun, der einfach auf Blut aus ist, auf Kicks.
Wenn wir unseren Job erledigen wollen, sollten wir, glaube ich, versuchen zu verstehen, wer er ist.«
»Hast du dir die Fotos von den Toten mal genauer angesehen, Lou? Wir wissen, wer sie sind, wer sie waren.«
»Das reicht, Paris. Wenn Sie noch mehr Dampf ablassen wollen, sollten Sie nach unten in die Sporthalle gehen.«
Harris wartete einen Moment und schaffte es, allein aufgrund seiner Autorität die Wogen zu glätten. Er war ein guter Streifenpolizist gewesen. Jetzt, da er hinter einem 94
Schreibtisch saß, war er ein noch besserer Polizist. Das zu wissen
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