Verlorene Seelen
Schreibtisch. Das Haar hatte sie wieder hochgesteckt, aber trotzdem sah sie nicht unnahbar aus.
Eher müde, dachte er, und nicht nur auf körperliche Weise. Während er sie beobachtete, hob sie die Hand und preßte sie gegen die Schläfe, um den einsetzenden Kopfschmerzen entgegenzuwirken.
»Sieht so aus, als könntest du ein Aspirin gebrauchen.«
Sie öffnete die Augen und setzte sich aufrecht hin, als fände sie es nicht akzeptabel, sich in Gegenwart anderer zu entspannen. Obwohl sie nicht besonders groß war, ließ der Schreibtisch sie nicht klein erscheinen. Sie schien vielmehr genau dazu zu passen, ebenso wie zu dem schwarz gerahmten Diplom, das hinter ihr an der Wand hing.
»Ich nehme nicht gern Tabletten.«
»Du verschreibst sie nur, ja?«
Sie setzte sich noch aufrechter hin. »Ihr habt doch nicht lange gewartet, oder? Ich muß meine Aktentasche mitnehmen.«
Als sie Anstalten machte aufzustehen, kam er zum Schreibtisch herüber. »Wir haben noch ein paar Minuten.
Hattest du einen anstrengenden Tag?«
118
»Ging so. Und du?«
»Hab’ kaum jemanden erschossen.« Er nahm einen großen Amethyst von ihrem Schreibtisch und ließ ihn von einer Hand in die andere gleiten. »Ich wollte dir noch sagen, daß du heute morgen deine Sache gut gemacht hast.«
Sie nahm einen Bleistift in die Hand, spielte damit herum und legte ihn wieder hin. Anscheinend war die nächste Konfrontation auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. »Danke. Du auch.«
Er setzte sich auf die Ecke ihres Schreibtischs. Obwohl sie Psychiaterin war, stellte er fest, daß er sich in ihrem Büro ganz ungezwungen benehmen konnte. Hier gab es keine Gespenster der Vergangenheit, nichts, das ihn bedrückte.
»Was hältst du von Samstagnachmittagsvorstellungen?«
»Ich bin für alles aufgeschlossen.«
Er mußte unwillkürlich grinsen. »Dachte ich mir fast. Es gibt ein paar alte Filme mit Vincent Price.«
»Das Kabinett des Professor Bondi?«
»Und Die Fliege. Hast du Interesse?«
»Eventuell.« Jetzt stand sie doch auf. Ihre
Kopfschmerzen beschränkten sich auf ein dumpfes Pochen in der Schläfe, das sich problemlos ignorieren ließ.
»Sofern es auch Popcorn gibt.«
»Es gibt sogar hinterher Pizza.«
»Dann bin ich dabei.«
»Tess.« Er legte ihr die Hand auf den Arm, obwohl er das schmucke graue Kostüm, das sie trug, nach wie vor einschüchternd fand. »Was letzte Nacht angeht …«
»Ich dachte, dafür hätten wir uns beide bereits entschuldigt.«
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»Ja.« Jetzt sah sie nicht mehr müde oder verletzlich aus, sondern so, als hätte sie sich wieder vollkommen unter Kontrolle. Ungerührt, unberührbar. Er trat zurück, den Amethyst immer noch in der Hand haltend. Es hatte die gleiche Farbe wie ihre Augen. »Hast du hier drinnen schon mal Sex gehabt?«
Tess zog dieAugenbraue hoch. Sie wußte, daß er sie schockieren oder zumindest ärgern wollte. »Das ist streng geheim.« Sie nahm ihre Aktentasche, die neben dem Schreibtisch stand, an sich und ging auf die Tür zu.
»Kommst du?«
Er verspürte den Drang, den Amethyst in die Tasche zu stecken. Verärgert legte er ihn sorgsam wieder auf die Schreibtischplatte und folgte ihr nach draußen.
Ed stand neben dem Schreibtisch der Sekretärin und nippte an seinem Tee. Sein Gesicht war fast so rot wie sein Haar.
»Mrs. Halderman«, erklärte sie Tess, während sie Ed einen mitfühlenden Blick zuwarf. »Ich habe es gerade noch geschafft, sie hinauszukomplimentieren, bevor sie ihn aufgefressen hat.«
»Das tut mir schrecklich leid, Ed.« Doch in Tess’ Augen funkelte es. »Möchten Sie sich vielleicht einen Moment hinsetzen?«
»Nein.« Er warf seinem Partner einen warnenden Blick zu. »Keine Kommentare, Paris.«
»Wo denkst du hin!« Mit Unschuldsmiene ging Ben zur Tür und hielt sie auf. Als Ed an ihm vorüberging, schloß er sich ihm an. »Allerdings bist du ja wirklich schön groß, nicht wahr?«
»Mach nur weiter so.«
120
Monsignore Timothy Logan sah in keiner Weise so aus, wie Ben aus seiner Kindheit einen Priester in Erinnerung hatte. Statt einer Soutane trug er ein Tweedsakko und einen hellgelben Rollkragenpullover. Er hatte das große breite Gesicht eines Iren und dunkelrotes, graumeliertes Haar. Seinem Büro fehlte die gedämpfte,
weihrauchgeschwängerte Atmosphäre einer Pfarrei mit dunkler Holztäfelung und alten Möbeln. Statt dessen roch es dort nach Pfeifentabak und Staub wie im
Arbeitszimmer eines ganz gewöhnlichen Mannes.
An den Wänden hingen weder
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