Verlorene Seelen
Schmerz. Immer wieder krampfte sich ihre freie Hand um den Aufschlag ihres Kleides zusammen. »Sie wollte heiraten. Sie mußte ihn einfach heiraten. Sie wollte sich zu ihrer Beziehung bekennen und zum Standesamt gehen, darauf war ihr ganzes Denken gerichtet. Er hielt sie ständig hin, ohne direkt nein zu sagen. Noch nicht. Jedenfalls ging es emotional mit ihr ziemlich bergab. Sie stellte einige Forderungen an ihn, woraufhin er ihr den Laufpaß gab. Einfach so. Er hatte noch nicht mal den Mumm, es ihr ins Gesicht zu sagen, sondern hat es ihr telefonisch mitgeteilt.«
»Wann war das?«
Mehrere Sekunden lang starrte Suzanne mit
ausdruckslosem Gesicht auf den Bildschirm, ohne Bens Frage zu beantworten. Eine Frau drehte gerade das Glücksrad, das auf Bankrott stehenblieb. Pech.
»In der Nacht, in der sie ermordet wurde. Abends hat sie mich angerufen und gesagt, sie wisse nicht, was sie tun und wie sie damit fertigwerden solle. Das Ganze hat sie schwer getroffen. Er war für Anne nicht bloß irgendein Mann, sondern der Mann. Ich habe ihr angeboten, zu ihr zu kommen, aber sie hat gesagt, sie wolle allein sein. Ich hätte hinfahren sollen.« Sie kniff fest die Augen zusammen. »Ich hätte mich in mein Auto setzen und zu ihr fahren sollen. Wir hätten uns zusammen betrinken können.
Oder wir hätten ein paar Joints geraucht, um high zu werden, oder uns Pizza bestellt. Statt dessen ist sie allein spazierengegangen.«
Als sie leise zu weinen begann, sagte Ben kein Wort.
Tess hätte die richtigen Worte gefunden. Dieser Gedanke tauchte aus dem Nichts auf und machte ihn wütend. »Ms.
Hudson.« Ben ließ ihr einen Moment Zeit, bevor er fortfuhr. »Wissen Sie, ob Sie von irgend jemand belästigt 185
worden ist? Ist ihr irgend jemand aufgefallen, im Büro oder in der Nähe ihres Apartments? Jemand, der sie beunruhigt hat?«
»Sie hatte ja nur John im Sinn. Wenn ihr wirklich etwas aufgefallen wäre, hätte sie es mir erzählt.« Sie stieß einen tiefen Seufzer aus und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen ab. »Wir haben sogar mehrmals über diesen Irren gesprochen und gesagt, daß man besonders vorsichtig sein muß, solange man ihn nicht geschnappt hat. Sie ist ohne nachzudenken auf die Straße gegangen.
Oder vielleicht weil es zuviel gab, worüber sie nachdenken mußte. Sie wäre mit der Sache schon fertig geworden – Anne war zäh. Jetzt hat sie keine Möglichkeit mehr dazu.«
Als Ben und Ed das Apartment verließen, um John Carroll aufzusuchen, saß sie auf der Couch und verfolgte mit starrem Blick die Glücksradsendung.
Carroll hatte in einer Gegend der Stadt, in der hauptsächlich junge Angehörige höherer Berufsstände wohnten, ein Haus. Gleich um die Ecke befanden sich ein Delikatessengeschäft, ein Spirituosenladen, der ausgefallene Marken führte, und ein auf Sportkleidung spezialisiertes Geschäft, die alle von der eigentlichen Wohngegend aus bequem zu Fuß zu erreichen waren. Auf der Auffahrt von Carrolls Haus stand eine dunkelblaue Mercedeslimousine.
Nach dem dritten Klingeln kam er zur Tür. Er trug ein Unterhemd und Jogginghosen und hatte eine Flasche Chivas Regal in der Hand. Mit einem jungen,
erfolgreichen Anwalt auf dem Weg nach oben hatte er wenig Ähnlichkeit. Ein Dreitagebart verdunkelte sein Gesicht. Seine Augen waren verquollen, die Wangen waren runzlig und hingen schlaff herab. Er roch wie ein Penner, der sich am Vierzehnten Juli in eine Gasse 186
verkrochen hat, um seinen Rausch auszuschlafen. Er warf einen flüchtigen Blick auf die Dienstmarken, nahm einen kräftigen Schluck aus der Flasche und machte kehrt, ohne die Tür zu schließen, die Ed dann hinter sich zuzog.
Das Haus hatte breite Eichendielen, die teilweise mit Aubussonteppichen bedeckt waren. Das Sofa im
Wohnbereich war lang und niedrig; der Bezug war ebenso wie bei den Sesseln in maskulinen Grau- und Blautönen gehalten. An einer Wand standen verschiedene
elektronische Geräte, das Neueste vom Neuen. An einer anderen Wand befand sich eine Sammlung alten
Spielzeugs – Blechautos, Sparbüchsen und Eisenbahnen.
Carroll ließ sich auf das Sofa in der Mitte des Zimmers fallen. Auf dem Fußboden standen zwei leere Flaschen und ein überquellender Aschenbecher. Auf den Kissen lag eine zerwühlte Decke. Ben vermutete, daß Carroll sich kaum von dort fortgerührt hatte, seit er benachrichtigt worden war.
»Zwei saubere Gläser hätte ich noch.« Seine Stimme war heiser, aber er lallte nicht, als hätte der Alkohol vor
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