Verlorene Seelen
bißchen besser, so als ob ich vielleicht doch alles bei mir behalten würde. Aber ich hatte eine Menge Bier getrunken und mußte einen Teil davon loswerden, verstehen Sie. Ich hatte noch genug Verstand, um zu wissen, daß ich nicht einfach auf den Bürgersteig pissen konnte. Deswegen bin ich zu der Gasse hinübergegangen. Ich bin fast über sie gestolpert.« Er wischte sich mit dem Handrücken die Nase, die anfing zu tropfen. »Ich hatte die Hand schon im Hosenschlitz und bin fast über sie gestolpert. O Gott, o Gott! Von der Straße kam genug Licht herein, so daß ich deutlich ihr Gesicht sehen konnte. Ich habe noch nie einen Toten gesehen. Noch nie. Das ist nicht wie im Kino, 176
Mann. Überhaupt nicht wie im Kino.«
Er schwieg eine Minute, nuckelte an seiner Zigarette und zerquetschte Tess fast die Finger. »Ich fing an zu würgen.
Ich bin ein paar Schritte gelaufen, um aus der Gasse zu gelangen, aber da kam’s mir schon oben raus. Ich dachte, es würde mich zerreißen. Mir drehte sich wieder alles, aber irgendwie bin ich dann aus der Gasse raus. Ich glaube, ich bin auf den Bürgersteig gefallen. Dann kam ein Streifenwagen und hat angehalten. Ich habe den Polizisten gesagt … ich habe ihnen bloß gesagt, sie sollen in die Gasse gehen.«
»Das haben Sie gut gemacht, Gil.« Ben nahm seine Zigarettenschachtel und stopfte sie dem jungen Mann in die Jackentasche. »Einer unserer Beamten wird Sie jetzt nach Hause bringen, damit Sie sich waschen und etwas essen können. Dann brauchen wir Sie auf dem Revier.«
»Kann ich meine Freundin anrufen?«
»Aber sicher.«
»Wenn sie nicht das Auto genommen hätte, wäre sie nach Hause gelaufen und vielleicht hier
vorbeigekommen.«
»Rufen Sie Ihre Freundin an«, sagte Ben. »Und trinken Sie nicht mehr soviel Bier. Whittaker.« Ben gab dem Fahrer des ersten Streifenwagens ein Zeichen. »Fahren Sie bitte Gil nach Hause, ja? Und lassen Sie ihm etwas Zeit, damit er sich waschen und einigermaßen zu sich kommen kann, bevor Sie ihn aufs Revier bringen.«
»Er könnte ein bißchen Schlaf gebrauchen, Ben«, murmelte Tess.
Er war drauf und dran, sie anzufahren, riß sich zusammen. Der Junge sah wirklich zum Umfallen müde
»Gut. Setzen Sie ihn zu Hause ab, Whittaker. Gegen Mittag lassen wir Sie dann mit dem Wagen abholen.
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Okay?«
»Ja.« Dann sah er Tess an, »Vielen Dank. Es geht schon wesentlich besser.«
»Wenn Sie das alles irgendwie bedrückt und Sie gern darüber sprechen möchten, dann rufen Sie auf dem Revier an. Dort wird man Ihnen meine Telefonnummer geben.«
Bevor Gil ins Auto gestiegen war, nahm Ben sie beim Arm und führte sie weg. »Das Dezernat hat was gegen Patientenfang am Tatort.«
Tess schüttelte seine Hand ab. »Nichts zu danken, Detective. Ich freue mich, daß ich euch helfen konnte, aus eurem einzigen Zeugen eine zusammenhängende
Geschichte herauszubekommen.«
»Die hätten wir auch so aus ihm herausbekommen.«
Ben wölbte die Hände über das Streichholz, mit dem er sich eine neue Zigarette anzündete. Aus den
Augenwinkeln sah er Harris am Tatort eintreffen.
»Es paßt dir einfach nicht, daß ich euch geholfen habe, nicht wahr? Warum? Weil ich Psychiaterin bin oder weil ich eine Frau bin?«
»Fang bloß nicht an, mich zu analysieren«, sagte er und warf seine Zigarette auf die Straße, was er im gleichen Moment bedauerte.
»Ich muß niemanden analysieren, um Groll,
Voreingenommenheit und Wut zu erkennen.« Abrupt hielt sie inne, weil ihr klar wurde, daß sie kurz davor war, in der Öffentlichkeit die Beherrschung zu verlieren und ihm eine Szene zu machen. »Ben, ich weiß, daß du mich nicht dabeihaben wolltest, aber ich bin euch nicht in die Quere gekommen.«
»In die Quere gekommen?« Er lachte und musterte ihr Gesicht. »Nein, du bist ein echter Profi, Mädel.«
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»Ach, daran liegt es, ja?« murmelte sie. Am liebsten hätte sie laut geschrien, sich irgendwo hingesetzt oder sich einfach davongemacht. Es erforderte die ganze ihr noch verbliebene Selbstbeherrschung, nichts davon zu tun. Was man anfängt, führt man auch zu Ende. Das hatte sie im Laufe ihrer Ausbildung gelernt. »Ich bin mit dir in diese Gasse gegangen und bin auf der gleichen Verhaltensebene wie du geblieben. Ich bin nicht zusammengebrochen, mir ist nicht schlecht geworden, ich bin nicht weggerannt. Ich bin beim Anblick der Leiche nicht hysterisch geworden, und das ärgert dich maßlos.«
»Ärzte sind objektiv, richtig?«
»Richtig«, erwiderte sie mit
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