Verlorene Seelen
wahrscheinlich nicht der Sinn nach einem guten Rat, Mr. Carroll, aber es wäre besser für Sie, wenn Sie ins Bett gingen und etwas schliefen.«
Er richtete den Blick zuerst auf Ed und dann auf die zu seinen Füßen herumstehenden Flaschen. »Ich habe sie geliebt. Wie kommt es, daß ich das erst jetzt begreife?«
Ben trat aus dem Haus und zog die Schultern hoch, weil es draußen kalt war. »Herrgott noch mal!«
»Ich glaube nicht, daß Suzanne Hudson jetzt das Bedürfnis hätte, ihm ins Gesicht zu spucken.«
»Tja, und was haben wir herausgefunden?« Ben ging zum Auto und nahm auf dem Fahrersitz Platz. »Da ist ein egoistischer, nur auf sein eigenes Vergnügen bedachter Rechtsanwalt, auf den Nortons Beschreibung nicht paßt.
Da ist eine Frau, die versucht, sich aus einer unbefriedigenden Affäre auszuklinken, und nachts einen Spaziergang macht. Und da ist ein Psychopath, der sich zufällig genau da befindet, wo sie spazierengeht.«
»Ein Psychopath, der eine Soutane trägt.«
Ben steckte den Schlüssel ins Zündschloß, drehte ihn jedoch nicht um. »Du glaubst, er ist Priester?«
Statt zu antworten, lehnte Ed sich zurück und starrte durch die Windschutzscheibe in den Himmel. »Was 190
meinst du, wie viele relativ große, dunkelhaarige Priester es wohl in der Stadt gibt?« Ed nahm einen Plastikbeutel mit einer Müslimischung aus der Tasche.
»Jedenfalls genug, um uns sechs Monate auf Trab zu halten. Die Zeit haben wir nicht.«
»Es könnte nichts schaden, noch einmal mit Logan zu sprechen.«
»Ja.« Ohne hinzusehen, griff er in den Beutel, den Ed ihm hinhielt. »Was hältst du von folgendem: Ein ehemaliger Priester, der wegen irgendeiner Tragödie, die mit der Kirche zu tun hat, ausgestiegen ist. Logan könnte uns vielleicht ein paar Namen besorgen.«
»Ein weiterer Mosaikstein. Dr. Court sagt in ihrem Bericht, daß er kurz vor dem Zusammenbruch steht und nach diesem letzten Mord wahrscheinlich einige Tage völlig fertig gewesen ist.«
»Den habe ich auch gelesen. Was, zum Teufel, ist denn das? Rinde und Zweige?« Ben drehte den Schlüssel um und fuhr los.
»Rosinen, Mandeln und Haferflocken. Du solltest sie anrufen, Ben.«
»Mein Privatleben geht nur mich was an, Partner.« Er bog um die Ecke und fuhr einen Block weiter, bevor er sagte: »Entschuldige.«
»Macht nichts. Weißt du, ich habe da eine Sendung im Fernsehen gesehen. Da wurde gesagt, daß in der heutigen Gesellschaft die Männer wirklich fein raus sind. Die Frauen haben sie von dem Zwang, der allein
Verantwortliche zu sein, befreit – jetzt brauchen sie nicht mehr den Macho zu spielen, der sich um alle Probleme kümmern und die Brötchen verdienen muß. Die Frauen warten im allgemeinen länger, bis sie sich nach einem Heiratskandidaten umsehen, sofern sie es überhaupt tun, 191
was bedeutet, daß der Mann eine größere Auswahl hat.
Die heutige Frau will keinen Märchenprinzen auf weißem Roß. Das Drollige dabei ist, daß viele Männer starke, unabhängige Frauen immer noch als Bedrohung
empfinden.« Er nahm eine Rosine aus dem Beutel. »Ganz erstaunlich.«
»Leck mich doch am Arsch.«
»Ich habe den Eindruck, daß Dr. Court eine ziemlich unabhängige Frau ist.«
»Schön für sie. Wer will denn eine Frau, die einem ständig auf der Pelle sitzt?«
»Gesessen hat Häschen eigentlich weniger«, erinnerte sich Ed. »Eher gelegen.«
»Häschen war was zum Ablachen«, murmelte Ben.
Außerdem war Häschen eine seiner üblichen
Dreimonatsaffären gewesen: Man lernt sich kennen, geht ein paarmal zusammen essen, lacht miteinander, geht zusammen ins Heu und trennt sich wieder, bevor irgendeiner auf dumme Gedanken kommt. Er dachte an Tess und erinnerte sich daran, wie sie am Fensterbrett seines Wohnzimmers gelehnt und gelacht hatte. »Sieh mal, in unserem Beruf braucht man eine Frau, an die man nicht dauernd denkt.«
»Du machst einen Fehler.« Ed lehnte sich zurück.
»Aber ich nehme an, du bist klug genug, um das selbst zu erkennen.«
Ben bog in Richtung Catholic University ab. »Laß uns Logan anzapfen, bevor wir wieder aufs Revier fahren.«
Um fünf Uhr nachmittags waren außer Bigsby alle Polizisten, die mit der Aufklärung der Priestermorde befaßt waren, im Konferenzraum versammelt. Harris hatte 192
alle Berichte vor sich liegen, die er Punkt für Punkt durchging und in denen genauestens festgehalten war, was Anne Reasoner am letzten Abend ihres Lebens gemacht hatte.
Um fünf Uhr fünf nachmittags hatte sie
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