Verlorene Seelen
Adreßbuch war übersichtlich angelegt und fast voll.
Bei vielen Namen handelte es sich um flüchtige Bekannte oder entfernte Verwandte. Hinzu kamen die Namen verschiedener Versicherungsagenten sowie die Adresse eines Kieferchirurgen und die eines Aerobiclehrers.
Dann machten sie Suzanne Hudson ausfindig, eine Grafikerin, die seit der Collegezeit Annes Freundin und Vertraute gewesen war. Ben und Ed trafen sie zu Hause an, in einem über einer Boutique gelegenen Apartment.
Sie trug ein langes Plüschkleid und hatte eine Tasse Kaffee in der Hand. Ihre Augen waren rot und verquollen und hatten dunkle Ringe, die bis zu den Wangenknochen reichten.
Der Ton des Fernsehers war abgeschaltet, während die Sendung Das Glücksrad auf dem Bildschirm zu sehen war.
Gerade hatte jemand die richtige Antwort gefunden: EIN
UNGLÜCK KOMMT SELTEN ALLEIN.
Nachdem sie die Ermittlungsbeamten hereingelassen hatte, ging sie zur Couch und setzte sich mit
untergeschlagenen Beinen hin. »In der Küche ist Kaffee, falls Sie welchen möchten. Es fällt mir im Moment 182
ziemlich schwer, Gastgeberin zu spielen.«
»Nicht nötig, aber trotzdem vielen Dank.« Ben nahm auf dem anderen Ende der Couch Platz und überließ Ed den Sessel. »Sie kannten Anne Reasoner ziemlich gut.«
»Wissen Sie, was das ist, eine beste Freundin? Ich meine, jemand, den man nicht bloß so nennt, sondern der es auch ist?« Ihr kurzes rotes Haar war tagelang nicht gewaschen worden. Sie fuhr sich mit der Hand hindurch, so daß es wie Stacheln vom Kopf abstand. »Ich habe sie wirklich geliebt, wissen Sie. Ich kann es immer noch nicht fassen, daß sie …« Sie biß sich auf die Unterlippe. Dann linderte sie ihren Schmerz mit einem Schluck Kaffee.
»Morgen ist die Beerdigung.«
»Ich weiß. Ms. Hudson, es ist schlimm, Sie gerade jetzt belästigen zu müssen, aber wir brauchen einige Auskünfte.«
»John Carroll.«
»Pardon, wie meinen Sie?«
»John Carroll.« Suzanne wiederholte den Namen und buchstabierte ihn, als Ed sein Notizbuch herausholte. »Sie wollten wissen, warum Anne mitten in der Nacht allein spazierengegangen ist, nicht wahr?«
Kummer und Wut malten sich in ihrem Gesicht, als sie sich nach vorn beugte und ein Adreßbuch vom Tisch nahm. Da sie ihre Kaffeetasse noch in der Hand hatte, blätterte sie es mit dem Daumen durch. »Hier ist seine Adresse.« Sie reichte Ed das Buch.
»Wir haben einen John Carroll, einen Rechtsanwalt, der für die gleiche Firma arbeitet, für die Ms. Reasoner tätig war.« Ed blätterte in seinen Notizen zurück und verglich die Adressen.
»Genau. Das ist er.«
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»Er ist schon mehrere Tage nicht im Büro gewesen.«
»Weil er sich versteckt«, stieß sie hervor. »Er hat nicht den Mut, dem, was er angerichtet hat, ins Auge zu sehen.
Wenn er morgen ins Büro käme, wenn er es wagte, sich dort sehen zu lassen, würde ich ihm ins Gesicht spucken.«
Sie legte die Hand vor die Augen und schüttelte den Kopf.
»Nein, nein, das ist nicht richtig.« Als sie die Hand wieder sinken ließ, merkte man ihr die Erschöpfung an. »Sie hat ihn geliebt. Sie hat ihn wirklich geliebt. Fast zwei Jahre waren sie zusammen, seit seinem Eintritt in die Firma. Sie haben es aber geheimgehalten – das war seine Idee.« Sie nahm einen großen Schluck Kaffee und schaffte es, ihre Erregung in Schach zu halten.
»Er wollte keinen Büroklatsch. Sie war damit
einverstanden. Sie war mit allem einverstanden. Sie machen sich keine Vorstellung, was sie wegen dieses Mannes alles geschluckt hat. Anne war eigentlich eine sehr selbständige Frau – sie hat es aus eigener Kraft geschafft, und so gefiel es ihr, das Singledasein ist ein alternativer Lebensstil. Sie war nicht militant, wenn Sie verstehen, was ich meine, sondern ganz einfach damit zufrieden, ihr Leben selbst zu bestimmen. Bis John kam.«
»Sie hatten also eine Beziehung«, warf Ben ein.
»Falls man es so nennen kann. Sie hat noch nicht mal ihren Eltern von ihm erzählt. Außer mir wußte niemand Bescheid.« Sie rieb sich die Augen. Ihre Wimperntusche hatte sich verklumpt und bröckelte ab. »Zuerst war sie so glücklich. Sicher, ich freute mich für sie, aber daß sie sich von ihm … nun ja, so bevormunden ließ, gefiel mir ganz und gar nicht. Bei kleinen Dingen angefangen, wissen Sie.
Wenn er italienisches Essen mochte, dann mochte sie es auch. Wenn er auf französische Filme stand, dann stand sie auch darauf.«
184
Einen Augenblick lang rang Suzanne mit ihrer
Verbitterung und ihrem
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