Verlorene Seelen
ruhiger Stimme, obwohl ihr blitzartig Anne Reasoners Gesicht in den Sinn kam.
»Aber vielleicht tröstet es dein Ego, wenn ich dir sage, daß es mir nicht leichtgefallen ist. Ich hätte mich am liebsten umgedreht und wäre davongelaufen.«
Irgend etwas in ihm machte einen Ruck, doch er achtete nicht darauf. »Du hast dich ziemlich gut gehalten.«
»Und das beraubt mich meiner Weiblichkeit. Du wärest glücklicher gewesen, wenn du mich aus der Gasse hättest heraustragen müssen. Eine kleine Störung, etwas ungelegen, macht aber nichts. Das wäre dir viel angenehmer gewesen.«
»Das ist doch Quatsch.« Er nahm eine weitere Zigarette heraus und fluchte innerlich, weil er erkannte, daß sie recht hatte. »Ich arbeite mit vielen Polizistinnen zusammen.«
»Aber du schläfst nicht mit ihnen, nicht wahr, Ben?«
sagte sie leise. Sie wußte, daß sie damit ins Schwarze getroffen hatte.
Mit zusammengekniffenen Augen zog er lange und tief den Rauch seiner Zigarette ein. »Sieh dich bloß vor.«
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»Ja, genau das beabsichtige ich auch.« Sie zog ihre Handschuhe aus den Taschen, da sie erst jetzt bemerkte, daß ihre Hände eiskalt waren. Die Sonne war inzwischen aufgegangen, doch es war immer noch düster und trübe.
Sie konnte sich nicht erinnern, je so gefroren zu haben.
»Sag deinem Captain, daß er spätestens morgen
nachmittag einen aktualisierten Bericht bekommt.«
»Sehr schön. Ich laß dich von jemand nach Hause fahren.«
»Ich möchte aber zu Fuß gehen.«
»Nein.« Er packte sie beim Arm, bevor sie fortgehen konnte.
»Du hast oft genug gesagt, daß ich eine Zivilperson bin.
Dann müßtest du auch wissen, daß du mir keine Befehle erteilen kannst.«
»Beschwer dich meinetwegen darüber, daß die Polizei dich schikaniert hat, aber trotzdem wirst du nach Hause gebracht.«
»Es sind doch nur zwei Blocks«, entgegnete sie und merkte, wie sein Griff noch fester wurde.
»Genau. Zwei Blocks. Zwei Blocks, und dein Name und dein Bild sind morgen in der Zeitung.« Mit seiner freien Hand hob er ihr Haar hoch. Es hatte fast denselben Farbton wie das Anne Reasoners. Das wußten sie beide.
»Streng doch mal dein Gehirn, auf das du so stolz bist, ein bißchen an und denk nach.«
»Ich lasse mir von dir keine Angst einjagen.«
»Na prima, aber trotzdem wirst du nach Hause
gebracht.« Ohne ihren Arm loszulassen, führte er sie zu einem Streifenwagen.
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8
In der Woche nach dem Mord an Anne Reasoner
investierten die fünf mit der Aufklärung der Priestermorde betrauten Polizisten über zweihundertsechzig
Arbeitsstunden, die sie teils mit Ermittlungen, teils am Schreibtisch verbrachten. Die Ehefrau des einen drohte mit Scheidung; ein anderer schlug sich mit einer schweren Grippe herum, und ein dritter litt an chronischer Schlaflosigkeit.
Der vierte Mord der Serie war die Topmeldung in den Sechs-Uhr- und Elf-Uhr-Nachrichten und stach sogar den Bericht über die Rückkehr des Präsidenten aus
Deutschland aus. Im Moment war Washington mehr an Mord als an Politik interessiert. NBC plante eine vierteilige Sondersendung.
Großen Verlagen wurden Manuskripte zum Thema
angeboten, so unglaublich es auch klingen mag. Noch unglaublicher war freilich die Tatsache, daß ebendiese Verlage Angebote für die Manuskripte machten.
Paramount spielte mit dem Gedanken, eine Miniserie zu produzieren. Weder Anne Reasoner noch irgendeinem der anderen Opfer war je solche Aufmerksamkeit zuteil geworden, als sie noch am Leben gewesen waren.
Anne hatte allein gelebt. Sie war Wirtschaftsprüferin bei einer Anwaltsfirma der Stadt gewesen. Die grellen, fantastisch geformten Emailleskulpturen und die fluoreszierenden Flamingos in ihrem Apartment zeugten von ihrem avantgardistischen Geschmack. Ihre Garderobe, bestehend aus bequemen Kostümen und Seidenblusen, spiegelte den Stil der Firma wider, für die sie arbeitete. Sie hatte sich Sachen von Saks leisten können. Sie hatte zwei 181
Aerobic-Kassetten von Jane Fonda, einen PC von IBM
und einen Allroundküchenmixer besessen. Neben ihrem Bett befand sich das gerahmte Bild eines Mannes. In der Schublade ihres Schreibtischs, auf dem frische Blumen –
weiße Zinnien – standen, lag eine Viertelunze Marihuana.
Sie war eine gute Angestellte gewesen, nur drei Krankheitstage seit Beginn des Jahres. Doch über ihr Privatleben wußten ihre Kollegen nichts. Ihre Nachbarn sagten, sie sei immer freundlich gewesen und der Mann auf dem Bild neben dem Bett sei häufig zu Besuch gekommen.
Ihr
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