Verlorene Seelen
den
Schönheitssalon verlassen, in dem sie Stammkundin war.
Sie hatte sich die Haare schneiden, nachfärben und fönen und die Fingernägel maniküren lassen. Sie war bester Laune gewesen und hatte ihrer Friseuse zehn Dollar Trinkgeld gegeben. Um fünf Uhr fünfzehn hatte sie ihre Sachen aus der Reinigung abgeholt: ein graues Kostüm, zwei Leinenblusen und eine Hose aus Gabardine. Gegen fünf Uhr dreißig war sie nach Hause gekommen. Ihre Wohnungsnachbarin hatte sich mit ihr in der
Eingangshalle unterhalten. Anne hatte erzählt, daß sie am Abend ins Theater gehe. Sie hatte frische Blumen bei sich gehabt.
Um sieben Uhr fünfzehn hatte John Carroll sie
angerufen, um ihre Verabredung abzusagen und ihre Beziehung zu beenden. Das Gespräch hatte etwa fünfzehn Minuten gedauert.
Um acht Uhr dreißig hatte Anne Reasoner ihre Freundin Suzanne Hudson angerufen. Sie war völlig fertig gewesen und hatte geweint. Das Gespräch hatte fast eine Stunde gedauert.
Um Mitternacht hatte ihre Nachbarin Anne Reasoners Fernseher gehört. Das war ihr aufgefallen, da sie selbst gerade heimgekehrt war und nicht erwartet hatte, daß Anne Reasoner zu Hause sei.
Um drei Uhr fünfunddreißig hatte sie Carroll angerufen.
Neben dem Telefon hatte man die Kippen von zwei Marihuanazigaretten gefunden. Sie hatten bis drei Uhr zweiundvierzig miteinander gesprochen. Keiner der 193
Nachbarn hatte gehört, wie Reasoner das Haus verließ.
Irgendwann zwischen vier Uhr und vier Uhr dreißig morgens hatte Gil Norton einen Mann in Priesterkleidung aus der Gasse kommen sehen, die zwei Blocks von Reasoners Apartment entfernt war. Um vier Uhr
sechsunddreißig waren zwei Streifenpolizisten auf Norton aufmerksam geworden, der ihnen von dem Leichenfund berichtete.
»Soweit die Tatsachen«, sagte Harris. Hinter ihm hing ein Stadtplan, auf dem die Tatorte durch blaue Stecknadeln gekennzeichnet waren. »Anhand des
Stadtplans können wir sehen, daß er sich auf einen Bereich von weniger als sieben Quadratmeilen beschränkt. Alle Morde fanden zwischen ein und fünf Uhr morgens statt.
Die Opfer wurden weder vergewaltigt noch beraubt.
Monsignore Logans Schema zufolge ist zu erwarten, daß er am achten Dezember wieder zuschlägt. Bis dahin werden ab sofort alle Streifen Doppelschichten machen.
Wir wissen, daß er von durchschnittlicher Größe, vielleicht auch etwas größer ist, dunkle Haare hat und wie ein Priester gekleidet ist. Aus Dr. Courts psychiatrischem Täterprofil und ihren Berichten wissen wir, daß er ein Psychopath, möglicherweise schizophren mit religiösen Wahnvorstellungen ist. Er tötet nur junge, blonde Frauen, die anscheinend eine reale Person symbolisieren, die in seinem Leben eine bestimmte Rolle spielt oder gespielt hat.
Dr. Court ist der Ansicht, daß seine Psychose auf eine Krise zusteuert, da der letzte Mord vom bisherigen Schema abweicht und die Handschrift der auf der Leiche hinterlassenen Mitteilung einen zittrigen Eindruck macht.
Der letzte Mord mag über seine Kräfte gegangen sein.«
Er ließ die Unterlagen auf den Tisch fallen und dachte 194
bei sich, daß das Ganze auch über ihre Kräfte ging. »Sie meint, daß es bei ihm inzwischen zu einer physischen Reaktion gekommen ist – Kopfschmerzen, Übelkeit –, die an seinen Kräften zehrt. Falls er noch imstande ist, sich zeitweise normal zu verhalten, steht er dabei ständig unter enormem Druck, was ihrer Ansicht nach zu Müdigkeit, Appetitlosigkeit und Unkonzentriertheit führen würde.«
Er machte eine kurze Pause, um sicherzustellen, daß sich jeder im Raum diese Dinge einprägte. Das
Konferenzzimmer war durch Glasscheiben und vergilbte Jalousien von den übrigen Räumlichkeiten des Dezernats getrennt. Hinter den Glasscheiben herrschte geschäftiges Treiben – Telefone klingelten, Schritte und Stimmen waren zu hören.
In der Ecke des Raums stand eine Kaffeemaschine, daneben ein überdimensionaler Plastikbecher, in den diejenigen Polizisten, die noch so etwas wie ein Gewissen hatten, pro Tasse fünfundzwanzig Cent warfen. Harris ging zu der Maschine, schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und fügte einen Teelöffel voll Trockenmilch hinzu, die er verabscheute. Während er trank, betrachtete er seine Leute.
Sie waren nervös, überarbeitet und frustriert. Wenn sie nicht dazu übergingen, sich auf einen Achtstundentag zu beschränken, würde ihm die Grippe einige abspenstig machen. Lowenstein und Roderick sprühten sich bereits hin und wieder ein schleimlösendes
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