Vermächtnis der Schwerter Tausendsturm
Konzentration dazu von den lauernden Augen abwenden. Barats Faust schloss sich um das Heft der Waffe. Er riss das Schwert hoch, um es schützend vor seinen Körper zu bringen. Aber die Augen waren verschwunden. Angestrengt spähte Barat in die Dunkelheit, um seinen Gegner auszumachen. Indes hätte er besser vor seine Füße blicken sollen. Denn dort nahm er jetzt eine Bewegung wahr. Der Wurzelbalg machte sich an Rais reglosem Körper zu schaffen.
Barat, der mit einem unmittelbaren Angriff gerechnet hatte, war so überrascht, dass er einen Moment lang nicht reagieren konnte. Dann brüllte er das Wesen wutentbrannt an, während er das Schwert drohend erhob. Die Kreatur sah ihm einen winzigen Moment lang direkt in die Augen, dann war sie so schnell in der Dunkelheit verschwunden, dass es schien, als hätte sie sich in Luft aufgelöst. Und obwohl die ausdruckslosen Augen des Wurzelbalgs keinerlei Gefühlsregung verraten hatten, war sich Barat vollkommen sicher, bei dem Wesen Furcht wahrgenommen zu haben. Verwirrt stand Barat mit der Klinge in der Hand über seinem Freund Rai. Die ganze Dunkelheit um ihn herum schien plötzlich erwacht zu sein, als wäre sie ein eigenes Wesen, dessen Präsenz er fühlen konnte. Unbestimmte Wahrnehmungen prasselten auf ihn ein wie ein Hagelschauer. Es war schlichtweg überwältigend. Seine Knie knickten ein. Die dunkle Klinge glitt zu Boden, und Barat sank hin in einen tiefen Schlaf.
Als er erwachte, stand die Sonne bereits wieder hoch am Himmel. Einige Vögel tirilierten in den nahe gelegenen Bäumen, und jegliche Gefahr schien mit der Nacht hinter den Horizont geflüchtet zu sein. Barat fühlte sich erfrischt. Zwar meldete sich ein leichtes Hungergefühl zurück, aber er war bei Weitem nicht mehr so entkräftet wie am Vortag. Er richtete sich auf. In Anbetracht der vielen Stunden, die er geruht hatte, war es kaum verwunderlich, dass er sich erholt fühlte. Aber was war mit ihm gestern Nacht nur geschehen?
»Barat! Wo sind wir?«
Barat fuhr herum. Er starrte vollkommen entgeistert auf seinen Gefährten Rai, der ihn, auf die Ellbogen gestützt, von seinem Lager aus Farnblättern her fragend anblickte.
»Du … du … du bist wach!«, stotterte Barat.
»Tja, sieht so aus.« Rai blinzelte einigermaßen verwirrt in die Sonne. »Ich habe wohl ziemlich lange geschlafen.« Er verzog das Gesicht und legte beschwichtigend eine Hand auf seinen Bauch. »Nach meinem Hunger zu urteilen, muss ich mindestens drei Mahlzeiten ausgelassen haben!« Er blickte sich suchend nach etwas Essbarem um. Als er nichts entdecken konnte, was dieses Kriterium erfüllte, wandte er sich mit vorwurfsvoll erhobenen Augenbrauen an seinen älteren Freund: »Wenn es sein muss, würde ich auch Kieselsteine verdrücken!«
Barat konnte es immer noch nicht fassen. »Du warst fast tot! Ich hatte schon beinahe jede Hoffnung aufgegeben, jemals wieder dein ständiges Maulen zu vernehmen!« Er lachte. »Wie geht es deinem Rücken? Tut er noch weh?«
»Nicht sehr«, antwortete Rai nachdenklich und verrenkte dabei seinen Arm, um die Wunde am Rücken zu betasten. »Aber es fühlt sich da alles etwas komisch an – so klebrig.«
»Lass mal sehen.« Barat begutachtete besorgt Rais Verwundung. Zu seinem Erstaunen war die Rötung fast vollständig zurückgegangen. Doch die Einstichstelle selbst bedeckte eine bräunliche, aromatisch duftende Substanz, die tatsächlich eine zähe Konsistenz wie Harz aufwies. Barat zerrieb ein wenig der Paste zwischen den Fingern, wobei er feststellte, dass wohl auch einige zerstoßene Pflanzenbestandteile hineingemengt worden waren. Allerdings erinnerte ihn weder Duft noch Aussehen der Zusätze auch nur entfernt an irgendein ihm bekanntes Gewächs mit heilkräftiger Wirkung. Ungläubig schüttelte er den Kopf.
»Was ist?«, fragte Rai, dem angesichts der Ratlosigkeit seines Kameraden nun ein wenig unbehaglich zumute geworden war.
»Es scheint«, erwiderte sein Freund nach kurzem Zögern, »als ob der Wurzelbalg dir das Leben gerettet hätte.«
»Was?« Rai verstand gar nichts. »Welcher Wurzel … häh?«
»Ach ja«, Barat versuchte sich zu sammeln, »ich denke, ich muss dir erst einmal berichten, was seit deiner Verwundung vorgefallen ist.«
Ausführlich schilderte Barat seinem Gefährten, wie lange er bewusstlos im Rumpf des kleinen Fischerboots gelegen hatte, wie es endlich gelungen war, eine Stelle zum Anlanden zu finden und welchem eigenartigen Wesen Barat in diesem versteckten Tal begegnet
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