Vermächtnis der Schwerter Tausendsturm
war die Beobachtung, dass kein einziges Stück totes Holz mehr am Boden gelegen hatte, seit sie das Dickicht am Rande des Waldes hinter sich gelassen hatten. Solche Wälder kannte der altgediente Soldat eigentlich nur von den Grafschaften im Norden Citheons, wo intensive Holznutzung dafür sorgte, dass kein Baum eines natürlichen Todes starb. Doch hatte er während des gesamten Weges auch noch keinen Stumpf entdecken können, der von solcherlei Forstwirtschaft zeugte.
Während er noch darüber nachsann, passierten sie eine Lichtung, die mit großen Mulden übersät war. Neben Bäumen fehlte auch jegliches Unterholz, sodass die Fläche bis auf ein paar Grasbüschel regelrecht kahl wirkte. Beinahe schien es, als hätte dort jemand die Bäume mitsamt des Wurzelballens ausgegraben und komplett abtransportiert. Aber wer würde auf eine solch widersinnige Art Holz fällen? Und das noch, ohne Wagenspuren oder Ähnliches zu hinterlassen?
Immer noch grübelnd stapfte Barat mit Rai im Schlepptau weiter den Waldweg entlang. Mittlerweile ging es merklich bergauf, und der Fluss, an dessen Ufer der Pfad verlief, hatte sich hier einige Schritt tief in die Landschaft gegraben. Barat war so mit seinen Gedanken beschäftigt, dass er beinahe auf den Wurzelbalg getreten wäre, der urplötzlich vor ihm auf dem Weg hockte. Mit einem überraschten »Beim Atem der jungen Göttin!« wich er einen Schritt zurück, woraufhin er mit Rai zusammenstieß, der offensichtlich ebenso achtlos seinem älteren Gefährten hinterhergelaufen war. Wenn der Wurzelbalg so etwas wie Belustigung angesichts der beiden tölpelhaften Menschen verspürte, verrieten seine dunklen Augen nichts davon. Er wartete geduldig, bis die zwei Tileter Diebe ihre Überraschung überwunden hatten, dann machte er vorsichtig ein paar weitere trippelnde Schritte in ihre Richtung. Bevor Rai irgendetwas hätte unternehmen können, legte die Kreatur ihre kleine Hand auf die Schneide des dunklen Schwertes, das in seinem Gürtel steckte. Es hätte auch nur eine zufällige Berührung sein können, wären die schwarzen Augen des Wesens dabei nicht fordernd auf Rai gerichtet gewesen. Reflexartig packte Rai das Schwert am Griff, erstarrte dann aber augenblicklich. Wieder verdichteten sich seine Gedanken um die dunkle Waffe an seiner Seite. Die Welt um ihn versank. Nur diesmal war sein Geist nicht allein, als er hinabglitt in die Tiefen des dunklen Metalls. Etwas Großes, Altes wartete dort auf ihn. Es schien in der Klinge zu leben und Rais Gedanken geradezu aufzusaugen. Es machte ihm Angst, wie dieses vollkommen Fremde seinen Verstand erfasste. Gleichzeitig spürte er aber tiefen Frieden, als würde man in einen klaren Bergquell blicken. Es gab nichts, was man fürchten musste. Stattdessen nahm er die forschende Neugier von diesem Etwas wahr, das in seinen Gedanken las wie in einem Buch und nach einer ganz bestimmten Antwort zu suchen schien. Rai fand es kaum möglich, auf die wirren Eindrücke und Bilder, die ihn umströmten, zu reagieren. Endlich schien das Wesen das gefunden zu haben, wonach es geforscht hatte. Zufrieden entfernte es sich aus seinem Geist, und die Welt kehrte wie eine Woge zu Rai zurück.
»Rai!« Jemand schüttelte ihn. »Rai, komm zu dir! Er ist weg!« Es war Barat.
»Was war los?« Rai fühlte sich, als wäre er gerade aufgewacht.
»Du warst kurz weggetreten, als ihr beide das Schwert berührt habt.« Barat klang besorgt. »Was war los? Geht’s dir gut?«
»Ja, ja, mir geht’s gut.« Rai blickte sich um. »Wo ist der Wurzelbalg hin?«
»Der ist verschwunden, als hätte ihn Xelos persönlich gegrüßt!«
Rai sah verwirrt aus. Er schüttelte den Kopf, während sein Blick zu der dunklen Klinge hinabsank, die immer noch an seiner Seite hing. »Ich glaube, irgendwas lebt in diesem Schwert, und ich hatte gerade eine Begegnung damit.« Er sah Barat direkt in die Augen. »Etwas schläft in dieser Klinge, oder …«, er suchte nach Worten, »das Schwert öffnet den Weg zu etwas, das ich nicht verstehe.«
Barat blinzelte nervös. Das hörte sich nicht nur unheimlich, sondern auch ein bisschen verrückt an. Aber spätestens seit seiner eigenen Erfahrung mit dieser furchterregenden Klinge konnte er die von Rai beschriebenen Sinneseindrücke nicht mehr als bloße Verirrungen eines jugendlichen Verstandes abtun.
Ein vernehmliches Knacken unterbrach ihr Gespräch und veranlasste beide, erschrocken in die Richtung zu spähen, aus der das Geräusch gekommen war.
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