Vermächtnis der Schwerter Tausendsturm
nicht, er handelte. Entschlossen machte er einen Schritt auf Ulag zu, dessen grausames Grinsen ihm Übelkeit bereitete.
»Rai, nicht!«, zischte Barat hinter ihm. Zu spät.
»Lass sie in Ruhe!«, sagte Rai mit fester Stimme. Er wusste, es war richtig, was er tat. Man musste helfen. Jeder mitfühlende Mensch hätte das getan. Gleichwohl stand er allein. Er schien plötzlich zu schrumpfen und wünschte sich sehnlichst an einen hellen Ort fern von dieser haarigen Ausgeburt roher Niedertracht. Aber er war hier, in dieser götterverfluchten Höhle und hatte gerade den einzigen Mann herausgefordert, dessen bloßer Anblick wahrscheinlich ausreichte, um die Heere der Unterwelt in die Flucht zu schlagen.
»Was hast du gesagt, du kleine Kröte?« Achtlos warf Ulag das Mädchen zu Boden. »Willst du mich etwa wütend machen? Weißt du, was passiert, wenn ich wütend bin?« Mit einem einzigen großen Schritt wuchtete der Riese seinen klobigen Körper direkt vor Rais Gesicht. Der kleine Dieb reichte Ulag gerade einmal bis zum Bauchnabel. Finger wie Eisenkrallen packten nun Rais Haupthaar und zogen ihn daran in die Höhe, bis er dem zottigen Ungetüm direkt in die stumpfen Knopfaugen blickte.
»Wenn Ulag wütend ist, dann brechen Knochen!«, sagte der Koloss.
Dann schleuderte er Rai mit solcher Wucht auf den Höhlenboden, dass die Luft aus dessen Lungen pfiff, als würde sie nie mehr dorthin zurückkehren. Ein Tritt beförderte Rais Körper zwei Schritt in Richtung Höhlenwand, wo er verkrümmt liegen blieb wie ein weggeworfener Lumpen. Sein Bewusstsein drohte in die umgebende Dunkelheit zu entschwinden. Nur sein trotziger Stolz bewahrte ihn vor der nahen Besinnungslosigkeit. Einen so leichten Sieg würde er dem gewalttätigen Despoten nicht gewähren. Doch alles in ihm und um ihn herum wirkte dumpf. Die Schmerzen seines gepeinigten Körpers, der kalte Höhlenboden, das Schreien des Mädchens, als Ulag es mit sich schleifte, all das schien wie durch mehrere Fuß Wasser zu ihm vorzudringen. Er trieb an einem gefahrlosen Ort, wo diese Ereignisse keinen rechten Sinn machten. Dann hörte er eine vertraute Stimme, und sein eigenes Stöhnen brachte ihn schließlich wieder in die Welt aus Stein und Düsternis zurück, die er so gerne für immer verlassen hätte.
»Rai, bei allen Göttern!« Barat befühlte die Knochen seines jungen Gefährten auf eventuelle Brüche. »Du schwachköpfiger Sohn eines bockbeinigen Rindviehs! Das ist nicht der Ort, um den Helden zu spielen!« Als der alte Soldat keine gebrochenen Knochen entdecken konnte, schüttelte er anerkennend den Kopf. »Aber du bist zäher als eine Tileter Tempelratte.«
Seine schmeichelhaften Vergleiche wurden von Rai nur mit einem neuerlichen Stöhnen gewürdigt. Inzwischen war einer von Ulags Handlangem seinem Herrn in den hinteren Teil der Höhle gefolgt, während der andere sich mit seiner Fackel vor den Gefangenen aufbaute und großspurig verkündete:
»Ihr werdet nun alle euer Werkzeug erhalten!« Der ebenfalls bärtige, aber eher schmächtige Sprecher hatte eine hohe, sich überschlagende Stimme, die einen gehetzten Eindruck vermittelte. »Ein Hammer und ein Meißel für jeden von euch! Hütet sie gut, denn sie werden euer Überleben sichern. Sie sind das Einzige, was ihr hier unten umsonst bekommt. Verliert ihr euer Werkzeug, seid ihr so gut wie tot!«
Der zweite Laufbursche kam wieder zurück mit zwei großen Holzkisten, die er hinter sich herschleifte. Er nahm aus jeder ein Paar Werkzeuge und teilte sie an die Neulinge aus. Währenddessen fuhr der Sprecher in seiner schrillen Tonlage fort:
»Alles, was ihr in der Mine haben wollt, müsst ihr bei unserem Herrn Ulag kaufen. Dies gilt für Nahrung, Kleidung, Ersatzwerkzeug, Decken, Wohnhöhlen, Frauen und alles Übrige. Die einzige gültige Währung ist lauteres Erz, das gegen die gewünschten Waren getauscht wird. Sonst gibt es hier unten keine Regeln oder Gesetze. Jeder muss für sein eigenes Überleben sorgen. Ihr habt keine Hilfe zu erwarten!« Damit beendete er seinen Vortrag und half seinem Gefährten, die Hämmer und Meißel auszuteilen. Auch Barat bekam die lebenswichtigen Arbeitsgeräte zugeteilt, während Rai leer ausging.
»Heh, er ist noch am Leben!«, protestierte Barat.
Der Angesprochene zuckte die Schultern und warf ihnen ein weiteres Werkzeugpaar vor die Füße. »Wenn du glaubst, dass es sich noch lohnt. Er hat Ulag beleidigt, seine Tage sind gezählt, selbst wenn er diese erste Bestrafung
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