Vermächtnis der Schwerter Tausendsturm
Das ist das Beste, was dir hier unten passieren kann. Bei ihnen wirst du vor Ulag weitgehend sicher sein, und ich komm schon zurecht. Ich hab bereits schlimmere Orte als diesen gesehen und bin immer noch am Leben.« Beschwörend blickte er in die ungläubig aufgerissenen Augen seines Gefährten. Dann setzte er um einiges strenger hinzu: »Was bildest du dir überhaupt ein, dir um mich Sorgen zu machen! Sieh lieber zu, dass du mir kein Klotz am Bein bist, und geh von jetzt an diesen Lauteren mit deinen ewigen Fragen auf die Nerven!«
Rai schüttelte fassungslos den Kopf. »Du musst mich wirklich noch für ein kleines Kind halten, Barat«, sagte er tonlos.
Daraufhin wandte er sich vollkommen gefasst an den wartenden Erbukas: »Tut mir leid, werter Bergmeister, aber unter diesen Bedingungen will ich nicht zu den Lauteren gehören.«
Er sprach den Namen der Knappschaft mit solcher Verachtung aus, dass Erbukas sich brüskiert zum Gehen wandte, dann aber doch innehielt, um noch einmal zu den beiden Tiletern zu sprechen: »Du beweist Charakterstärke, kleiner Neuling. Das ist hier unten selten, und ich achte die Treue zu deinem Freund. Dennoch ist es dumm, und du wirst das noch erkennen müssen. Aber wie dem auch sei, nehmt wenigstens ein paar Ratschläge von mir an: Macht euch so schnell wie möglich an die Arbeit, solange ihr noch ein wenig Kraft habt. Wenn der Hunger euch erst einmal schwächt, werdet ihr nicht mehr genug Erz heranschaffen können, um satt zu werden. Dann ist es ganz schnell vorbei.« Er fuhr mit der Handkante über seine Kehle, um seine Worte zu verdeutlichen.
»Haltet euch von den Südstollen fern!« Er wies in die entsprechende Richtung. »Die sind allesamt einsturzgefährdet. Die Nordstollen gehören den Lauteren, dort seid ihr nicht willkommen. Ich würde euch die Stollen im Westen empfehlen. Nehmt die Blindschächte bis in die zweite Sohle, folgt der Richtstrecke bis zum fünften Querschlag auf der linken Seite …« Erbukas stutzte, als er die verständnislosen Gesichter der beiden Neulinge sah. Seufzend wiederholte er: »Steigt eine Ebene hinab, folgt dem Hauptgang bis zur fünften Abzweigung auf der linken Seite, kriecht diesen Gang bis zum Ende, und ihr werdet auf rötlich glänzende, blasenförmige Wölbungen in den Wänden stoßen. Dabei handelt es sich um eine Gesteinsart, die wir Rötel oder auch Glaskopf nennen. Schlagt dieses rote Erz aus der Wand, es enthält einen hohen Eisenanteil. Die Lagerstätte wird für die ersten Tage euer Überleben sichern, danach seid ihr auf euch allein gestellt. Und geht schnell, bevor ein anderer diese Stelle findet.« Er kramte in einem Tuchbeutel, den er um die Hüften gebunden hatte, worauf er eine dicke, kleine Kerze zutage förderte, die er an seiner Bergmannsleuchte entzündete. Er stellte das blakende Licht vor den beiden Dieben auf den Boden.
»Das gibt euch einen entscheidenden Vorsprung den anderen Neulingen gegenüber«, erklärte Erbukas weiter, »denn die müssen erst mal in den großen Höhlen schürfen, wo sich genügend Arbeiter mit Lichtem aufhalten. Die abgelegenen, ergiebigeren Stollen können sie erst aufsuchen, wenn sie sich eine Kerze verdient haben. Also nutzt diesen Vorteil!« Er drehte ihnen erneut den Rücken zu, um zu gehen.
»Danke, Erbukas, das werden wir dir nicht vergessen«, sagte Barat.
»Ich bezweifle, dass ihr noch die Gelegenheit bekommt, euch erkenntlich zu zeigen«, erwiderte der Bergmann nüchtern. »Ach, und eins noch: In der zweiten Westsohle werdet ihr vielleicht auf einen ziemlich finsteren Gesellen treffen, stark wie ein Ochse und schweigsam wie ein Fisch. Wir nennen ihn nur Narbengesicht. Er wird euch nichts tun, solange ihr ihn in Ruhe lasst. Aber seid gewarnt, denn er hat bei seiner Ankunft gleich vier Raffern mit bloßer Hand den Garaus gemacht. Ulag wollte ihn als einen seiner Handlanger haben, aber Narbengesicht hat unseren geschätzten Herrn einfach ignoriert. Und Ulag stand da und tat nichts. Jeden anderen hätte er zu Brei geklopft, aber nicht bei Narbengesicht. Irgendwas ist an diesem Mann, das einem die Zehennägel aufrollt, und das hat sogar Ulag gespürt. Wie dem auch sei, ihr werdet ja sehen. ›Möge eure Kerze nicht verlöschen‹, wie wir hier unten sagen.« Er nickte ihnen über die Schulter zu und ließ die beiden allein.
Eine Weile saßen die Freunde still gegen die Höhlenwand gelehnt und dachten über die vielen lebenswichtigen Hinweise nach, die sie von Erbukas erhalten hatten.
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