Vermächtnis der Schwerter Tausendsturm
Mittlerweile war die Eingangshöhle zur Ruhe gekommen, denn sowohl die Raffer als auch Ulags Männer waren verschwunden. Einzig die neu angekommenen Sklaven saßen noch in versprengten Gruppen auf dem kalten Felsenboden und versuchten zu verstehen, was mit ihnen geschehen war.
»Du bist wirklich der sturste kleine Strauchdieb unter der Sonne Citheons!«, stellte Barat fest, nachdem er Rai eine Weile dabei beobachtet hatte, wie er Löcher in den Höhlenboden starrte.
»Weißt du eigentlich, wieso ich meine Anstellung im Hause Scherwingen verloren habe?«, fragte Rai unvermittelt, ohne aufzublicken.
»Du wirst sie wahrscheinlich um ein paar silberne Löffel erleichtert haben, wie ich dich kenne«, erwiderte Barat mit sanftem Spott.
Rai schüttelte betrübt den Kopf. »Ich war nicht immer ein Dieb, Barat«, sagte er wehmütig. »Es gab eine Zeit, da wollte ich nichts anderes, als die Küche im Hause Scherwingen auszufegen. Dort arbeitete ein Dienstmädchen, ihr Name war Nera. Sie war nicht einmal besonders schön, aber ihre Augen hatten etwas Unwiderstehliches, und sie war immer sehr nett zu mir. Jedenfalls hatte der Aufseher Tjolmar ein Auge auf sie geworfen, und da passte es ihm gar nicht, dass ich mich ständig in ihrer Nähe aufhielt. Einmal erwischte er mich dabei, wie ich sie an den Beinen festhielt, als sie auf einer Leiter stand, damit sie nicht herunterfiel. Es war eigentlich ganz harmlos, aber er wurde so zornig, dass er mich zwang, an diesem Tag den Küchenboden mit meiner Zunge zu reinigen.« Rai schubste gedankenverloren ein Steinchen mit dem Zeigefinger über den Höhlenboden.
»Eines Nachts«, fuhr er etwas leiser fort, »kam ich in die Küche, weil ich noch Hunger verspürte. Da sah ich, wie der fette Tjolmar meine Nera auf dem Küchentisch festhielt und gerade dabei war, ihr die Kleider vom Leib zu reißen. Sie wehrte sich nach Leibeskräften, aber gegen seine Masse konnte sie nichts ausrichten. Ich schrie ihn an, er solle sie loslassen, doch ich fing mir nur eine Backpfeife ein, die mich in den hintersten Winkel der Küche beförderte.« Rai schluckte, dann sprach er hastig weiter: »Daraufhin hab ich mir ein Messer genommen und es ihm bis zum Anschlag in seinen feisten Wanst gerammt.« Der junge Tileter hielt angstvoll inne, als fürchte er, sein Freund würde ihn wegen dieses Geständnisses verurteilen.
Doch Barat schwieg beharrlich, bis Rai seine Geschichte endlich fortsetzte: »Natürlich herrschte helle Aufregung, als der Aufseher am Morgen tot in der Küche gefunden wurde. Alle wurden zu dem Vorfall befragt, aber keiner wusste etwas, oder zumindest sagten alle, sie hätten nichts gehört. Ich hielt selbstverständlich auch meinen Mund. Am nächsten Tag erfuhr ich dann, dass Nera verhaftet worden war und hingerichtet werden sollte, weil man ihre blutdurchtränkten Kleider irgendwo gefunden hatte. Ich war verzweifelt und rannte zum Hausherrn, um ihm zu sagen, dass ich Meister Tjolmar erstochen hatte, nur glaubte er mir nicht. Aber wegen meiner dreisten Lügen, wie er sagte, warf er mich kurzerhand hinaus.« Rai schloss seine zitternden Finger zur Faust. »Ein paar Tage später musste ich mit ansehen, wie sie Nera öffentlich enthauptet haben. Da war ich gerade zwölf!« Mit glasigen Augen blickte er zu Barat hinüber. »Also denke nicht, ich wäre ein dummer Junge, nur weil ich noch nicht so viele Jahre zähle wie du. Wenn du in einer Stadt wie Tilet ohne Eltern aufwächst, dann endet die Kindheit, sobald du laufen lernst.«
Barat nickte ehrlich betroffen. Schwerfällig erhob er sich schließlich von dem unbequemen Höhlenboden und reichte Rai seinen Arm, um ihm beim Aufstehen zu helfen. »Wenn du schon wieder gehen kannst«, meinte er mit einem versöhnlichen Lächeln, »dann sollten wir jetzt zusehen, dass wir unseren Lebensunterhalt verdienen.«
Rai kam mit einiger Mühe auf die Füße, und beide machten sich langsam humpelnd auf den Weg in Richtung der westlichen Stollen.
ES LEBE DER KÖNIG!
A lle waren sie gekommen. Die zwanzig Vertreter des Seewaither Rundadels in ihren feinen Ausgehröcken hatten bereits Platz genommen, während die Gildenleiter und die Freien Räte, noch in Gespräche vertieft, überall im Saal verteilt standen. Nicht einer wollte sich die wichtigen Bekanntmachungen des heutigen Tages entgehen lassen, über deren Inhalt bereits reichlich Spekulationen in Umlauf waren. Arden Erenor, jüngstes Mitglied im Rat von Seewaith und Nachfolger seines unter so
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