Vermächtnis der Schwerter Tausendsturm
das sanfte Tageslicht, das durch den Spalt zu ihnen herabfiel, so stark geblendet, als würde er direkt in die gleißende Sonne blicken. Blinzelnd versuchte er, sich zu orientieren. Hier gab es keine Bettler oder halb tote Gestalten in den Ecken, alles schien ordentlich und gesittet vonstattenzugehen. Eine Traube Menschen hatte sich im linken Teil der Höhle in der Nähe der Wohnquartiere versammelt. Jeder trug ein mehr oder minder großes Bündel bei sich, in dem ganz offensichtlich Erzklumpen aufbewahrt wurden. Rai näherte sich der Gruppe mit Vorsicht. Jeden Moment erwartete er Ulags hünenhafte Gestalt zwischen den Wartenden auftauchen zu sehen. Stattdessen erkannte er an dem Transportkorb auf dem Rücken den Narbengesichtigen, der sich bereits unter die Bergleute gemischt hatte. Nichts ließ hingegen auf die Anwesenheit des gefürchteten Herrn des Bergwerks schließen. Der junge Dieb wusste jedoch, dass sich sein Widersacher um diese Zeit hier aufhalten musste, da ihm Barat erzählt hatte, dass Ulag Qualität und Gewicht des gelieferten Erzes immer persönlich überwachte. Folglich war der Unhold vermutlich näher, als Rai lieb sein konnte.
Unsicher gesellte er sich schließlich zu den wartenden Minenarbeitern, die sich teilweise in gedämpftem Tonfall unterhielten, manchmal aber auch nur teilnahmslos vor sich hin stierten. Bald erkannte er, dass er sich am Ende einer langen Warteschlange befand, die sich bis zu einer breiten Nische in der Höhlenwand erstreckte. Der von flackerndem Fackelschein erhellte Bereich war aus seiner Position nicht ganz zu überblicken, aber zu beiden Seiten des Raums bemerkte er zwei von Ulags Handlangern. Bei deren Anblick setzte sein Herz ein paar Schläge aus, denn wo sich diese Laufburschen aufhielten, da war auch ihr haariger Meister nicht fern. Obwohl Rai nichts anderes erwartet hatte, sank die Gewissheit doch wie ein Stein in seinen Magen hinab. Plötzlich war er sich ganz sicher, dass ihn der Riese auf den ersten Blick wieder erkennen würde. Er musste sich etwas einfallen lassen!
Für seinen Geschmack viel zu schnell bewegte er sich in der Schlange auf die Felsennische zu. Bald trennten ihn nur noch wenige Schritte von der Stelle, an der ihn unausweichlich sein Schicksal erwartete. Der Raum, in dem das Erz getauscht wurde, war nun komplett zu überschauen. Flankiert von zwei Fackeln, stand in seinem Zentrum ein ausladender Tisch, wo einer von Ulags Bediensteten mithilfe einer Balkenwaage das Gewicht des abgelieferten Erzes bestimmte. Rechts davon befanden sich zahlreiche senkrecht zur Wand aufgestellte Regale mit allerlei unterschiedlichen Waren darin, davor waren ein halbes Dutzend voluminöser Flechtkörbe aufgestellt, aus denen drei von Ulags Männern Brot, Dörrfleisch, gesalzenen Hering und ab und zu auch einmal frisches Obst austeilten. Die Mengen variierten stark, je nach dem Wert des eingetauschten Rötels. Oft wurden auch Kerzen, Körbe, Kleidung oder andere Utensilien für das tägliche Überleben in den Minen erworben. Links vom Waagentisch füllten drei weitere Gefolgsleute das Eisenerz in die gleichen geflochtenen Tonnen, in denen auch die Nahrung transportiert wurde.
Erst jetzt fiel Rai der alles überragende Schatten an der hinteren Wand der Höhle auf. Diese Statur konnte nur zu einem einzigen Menschen gehören. Er wachte über jede Bewegung in seinem Reich – Ulag! In Rais Kopf herrschte Leere wie in einem ausgewrungenen Weinschlauch. Panik kroch durch seine Adern, Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Nichts kam ihm in den Sinn – keine Idee. Er würde vor Ulag hintreten mit nichts als einer vagen Hoffnung. Warum schlug er nicht gleich selbst seinen Kopf gegen einen Felsen?
»Weicht vor den Dienern der reinigenden Flammen!«, erscholl ein lauter Ruf in seinem Rücken. Erschrocken fuhr der kleine Tileter herum und sah sich Auge in Auge mit einem grimmig dreinblickenden Menschen, dessen Haupt von einer schäbigen Kapuze beschirmt war. In einer Hand hielt er einen langen Stock, an dessen Spitze eine gierig züngelnde Flamme von einigen in Öl getränkten Stofffetzen gespeist wurde. Stirn und Wangen des Mannes waren von merkwürdigen, unregelmäßigen Mustern bedeckt, die möglicherweise lodernde Feuer darstellen sollten. Die Linien schienen mit einem heißen Eisen in die Haut gebrannt worden zu sein, was ein gehöriges Maß an Selbstdisziplin erfordert hätte, wenn dies freiwillig geschehen war. In den Augen des Mannes glänzte die selbstgerechte
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