Vermächtnis der Schwerter Tausendsturm
meistens ›Tränenbrunnen‹. Nicht jeder überlebt den Sprung in die Tiefe, aber die Glücklichen, die unbeschadet aus dem Bergwerk gespült werden, bekommen hier ihre zweite Chance. An dieser Stelle tritt man zum zweiten Mal ins Licht der Welt, daher unser Name für dieses Gewässer.«
»Jetzt mal langsam«, entgegnete der Dieb unwillig. »Ich bin nicht in den Schlund gesprungen! Warum hätte ich das auch tun sollen, ohne zu wissen, was mich am Grund erwartet? Ich wurde von der Flut in der letzten Nacht einfach mitgerissen, und ein riesiger Strudel hat mich dann den Schacht hinabgesaugt. Es kann keine Rede davon sein, dass das Absicht war!«
»Tatsächlich?« Der Speerträger wirkte überrascht. »Dann bist du vermutlich der Erste, der unfreiwillig den Weg in den Tränenbrunnen angetreten hat. Jeder andere, der sich entschloss, diesen Sprung zu wagen, handelte in dem Bewusstsein, dass dies mit großer Wahrscheinlichkeit sein Ende bedeuten würde. Nur diejenigen, denen selbst der Tod verheißungsvoller erschien als ein weiteres Leben in den Minen, wählten diesen endgültigen Weg der Flucht. Keiner von uns ahnte, dass wir dadurch die Pforte zu einem neuen Leben in Freiheit durchschreiten würden.«
Rai starrte ihn entgeistert an. »Das soll bedeuten, du wolltest dich umbringen, als du in den Schlund gesprungen bist?«
»So ist es«, antwortete sein Gegenüber ernst. »Ich habe diese stupide Knochenarbeit, die ständigen Grausamkeiten Ulags, die andauernde Bedrohung durch Raffer, Fluten und Stolleneinstürze nicht mehr ausgehalten. Also wollte ich dem ein Ende setzen, das Einzige, über das ich noch frei entscheiden konnte.« Er schwieg, als die Bitterkeit von Neuem in ihm aufstieg.
»Aber die junge Göttin hatte etwas anderes mit mir im Sinn«, fuhr er lächelnd fort. »Und hier bin ich, umgeben von lebendiger Natur, die mich beherbergt und nährt, ohne etwas dafür zu verlangen.«
»Lebst du allein hier?«, wollte der Dieb wissen.
»Nein, wir sind inzwischen beinahe vierzig«, erwiderte der Blonde. »Unsere Heimat ist der Wald. Wir versuchen, den Soldaten möglichst aus dem Weg zu gehen, indem wir uns auf dieser Seite des Gebirges in den unzugänglichen Tälern verstecken.«
»Aber eines verstehe ich nicht«, meinte Rai nachdenklich. »Wenn ihr so viele seid, warum habt ihr dann nicht einmal versucht, die Sklaven aus der Mine zu befreien?«
Der bärtige Waldbewohner lächelte traurig. »Wir haben nur Waffen aus Holz, keinerlei Rüstung und nicht die geringste Erfahrung im Kämpfen. Glaubst du, wir hätten auch nur den Hauch einer Chance gegen die gepanzerten Gardisten in ihrem Wehrturm?« Er schüttelte den Kopf. »Wir haben einmal einen Sklavenzug auf dem Weg von der Stadt zur Mine überfallen. Das hat auch das erste Mal ganz gut funktioniert, nur dass sie anschließend die Wachen verdreifacht haben. Bei dem zweiten Angriff haben wir zehn Männer und unseren Anführer Ralin verloren. Seither versuchen wir uns von der Straße fernzuhalten. Der Blutzoll war einfach zu hoch.«
»Soll das heißen, ihr habt noch nicht einmal versucht, in die Mine einzudringen, um den Sklaven dort zu verraten, dass sich direkt vor ihrer Nase eine Möglichkeit zur Flucht aus dem Bergwerk befindet?«, entrüstete sich Rai. Der Gedanke war ihm einfach unerträglich, dass der Kerker, in dem er so lange festgesessen hatte, offenbar eine unversperrte Hintertür besaß, durch die er die ganze Zeit hätte entkommen können.
»Ich wüsste nicht, wie wir das anstellen sollten«, entgegnete der Blonde ein wenig irritiert. »Der Förderkorb wird Tag und Nacht von mindestens drei Soldaten bewacht. Die ganze Fläche um den Spalt ist nachts hell erleuchtet und kann von der Spitze des Turms mit drei schweren Armbrüsten unter Beschuss genommen werden. Es ist kaum möglich, sich bis auf zweihundert Schritt zu nähern, ohne entdeckt zu werden. Und sobald Alarm gegeben wird, erhalten die Wachen am Transportkorb sofort Verstärkung aus dem Turm. Dort sind wenigstens zwanzig Soldaten untergebracht. Gegen die sind wir mit unseren Spielzeugwaffen völlig machtlos.«
Rai brummte ärgerlich. Mittlerweile hatte er sich unter Aufbietung seiner ganzen Willenskraft aufgerichtet, um nicht länger wie ein Bittsteller vor dem Fremden zu knien. Die schmerzenden Glieder trugen nicht gerade dazu bei, seine Laune zu bessern, aber in erster Linie erregte die mangelhafte Einsatzbereitschaft des entflohenen Sklaven seinen Unwillen. Dieser ehemalige Gefangene des
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