Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
vor der Geburt sah ich noch etwas anderes an meiner Schwester, was niemandem aufzufallen schien. Sie war verliebt. Das Mädchen, von dem jeder sagte, es sei klug genug, keinen festen Freund zu haben, das Mädchen, das sich so sehr auf seinen Sport und die Schule konzentrierte, war total verliebt in jemanden. In den Vater des armen Babys. Sie hat mir nie etwas über ihn erzählt, aber ich wusste, dass etwas los war. Wenn sie dachte, niemand würde hinschauen, konnte ich es sehen. IhreSchultern entspannten sich. Ein kleines Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. Ein träumerischer, weicher Ausdruck stahl sich in ihre Augen. Zum ersten Mal in ihrem Leben sah meine Schwester glücklich aus. Ich wusste auch, dass sie sich manchmal nachts aus dem Haus schlich. Ein Mal habe ich sie durch das Fenster in meinem Zimmer beobachtet und gesehen, wie sie in ein Auto gestiegen ist, das mit ausgeschalteten Scheinwerfern am Straßenrand stand. Auf dem Fahrersitz saß eine einsame Gestalt. Durch die Schatten sah ich, wie sie sich umarmten und verzweifelt und leidenschaftlich küssten.
Doch dann passierte etwas. Der verträumte Ausdruck in ihren Augen wurde wieder von ihrer beinahe grausamen Entschlossenheit ersetzt. Sie lernte jetzt noch mehr, trainierte noch härter. Und obwohl ich in jener Nacht das Ergebnis ihrer Schwangerschaft in den Armen hielt, war es beinahe unmöglich, mir vorzustellen, dass dieses kleine Leben in ihr gewesen war, während sie sich so sehr geschunden hatte.
Ich durchquerte die Küche und ging durch die Hintertür nach draußen. Ein kühler Sommerwind blies mir die Haare aus dem Gesicht. Nach der stickigen Luft in Allisons Zimmer hob ich mein Gesicht nur zu gern dem Regen entgegen, der immer noch heftig fiel. Ich wickelte das Laken fester um das Baby, wie um es vor den Elementen zu schützen. Im Süden stand der Mond hell und klar am Himmel, blinzelte durch die Wolken, die schnell an ihm vorüberzogen. Es war gerade ausreichend hell, damit ich sehen konnte, wohin ich ging, aber es war auch dunkel genug, um das Päckchen zu verbergen, das ich bei mir trug.
Allison und ich sind nur selten in den kleinen Wald hinter unserem Haus gegangen. Unsere Mutter hatte uns vor dem Druid River gewarnt, der dahinter verlief. „Der Fluss ist gefährlich“, hatte sie uns erklärt. „Man steckt einen Zeh ins Wasser, und er schnappt dich und zieht dich herunter. Wenn du einmal hineinfällst, kommst du nie wieder heraus.“ Ich habe immer gedacht, dass Allisons Albträume davon handelten, in dem Fluss zu ertrinken. Sie schrie nämlich immer laut auf, kam nach Luft schnappendzu sich und rieb sich die Augen, als wolle sie Wasser fortwischen.
Das schwache Licht des Mondes wurde ausgelöscht, sobald ich den Wald betrat, der mich an die Wälder der Gebrüder Grimm aus den Märchen meiner Kindheit erinnerte. Unsere Mutter hatte uns mit fürchterlichen Geschichten über Borreliose und kleine tollwütige Tiere erschreckt. Ich umklammerte das Baby und stellte mir vor, wie Zecken ihren mit Krankheitskeimen erfüllten Kiefer in meine Haut gruben und sich daranmachten, mein Blut zu trinken, und wie sich hinter den Bäumen Tiere mit Schaum vor dem Maul versteckten, bereit, jeden Augenblick über mich herzufallen. Vorsichtig glitt ich mit den Füßen über die matschige, steinige Erde. Ich ertastete mir den Weg zum Fluss mehr, als dass ich ihn sah, duckte mich unter niedrig hängenden Ästen hinweg, die in der Dunkelheit wie riesige haarige Arme aussahen. Als ich näher kam, hörte ich den Druid River. Laut und wild toste er an mir vorbei. Meine Turnschuhe gruben sich tief in den Matsch. Wir hatten in dem Frühjahr Rekordniederschläge gehabt, und alle Flüsse und Bäche wurden immer breiter und breiter und verschlangen immer mehr Land.
Hier auf dem Rand der Badewanne sitzend, halte ich meine Hand unter das fließende Wasser, dessen Dampf langsam den Raum füllt. Ich greife in das heiße Wasser und fische nach dem Stopfen, der den Abfluss verschließt. Oh, wie gut würde es sich anfühlen, in die Badewanne zu steigen und das warme Wasser auf der Haut zu spüren. So komplett einzutauchen, dass nichts außer Dunkelheit und Stille bleibt. Wieso bin ich hierhergekommen? Ich bin mir nicht mehr sicher.
Aus dem anderen Zimmer höre ich Joshua nach seiner Mutter rufen. Ich wische die Tränen ab, die mir die Wangen hinunterkullern, und gehe zu ihm.
CLAIRE
Claire schaut Allison an und kann es nicht glauben. Allison soll das Mädchen sein, das
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