Vermächtnis

festgeschriebene System der »altersbasierten Zuweisung von Ressourcen in der Gesundheitsfürsorge« gibt jüngeren Patienten den Vorrang gegenüber älteren, wenn nur begrenzte Mittel zur Verfügung stehen; zur Begründung wird angeführt, man solle Zeit, Energie und Geld nicht in die Rettung älterer Menschen investieren, die ohnehin als »empfindlich und gebrechlich« abgeschrieben wurden. Ist es da verwunderlich, dass Amerikaner und Europäer schon im Alter zwischen 30 und 40  Jahren viel eigenes Geld investieren, um sich beispielsweise durch das Färben von Haaren oder plastische Chirurgie ein jugendliches Erscheinungsbild zu sichern?
    Zu dieser niedrigen Stellung der älteren Menschen in den Vereinigten Staaten tragen zumindest dreierlei Wertvorstellungen bei, von denen einige auch in der europäischen Gesellschaft vorherrschen. Auf eine davon wies der Soziologe Max Weber hin: auf die Arbeitsmoral. Weber machte darauf im Zusammenhang mit Johannes Calvins Spielart der protestantischen Revolution aufmerksam und formulierte sie insbesondere im Hinblick auf Deutschland, sie ist aber ganz allgemein für die moderne westliche Gesellschaft von Bedeutung. Auf die Gefahr hin, seine langen, komplizierten Bücher und Artikel auf einen Satz zu reduzieren, kann man sagen: Für Weber war die Arbeit der zentrale Lebensbestandteil, die Quelle für Status und Identität und der nützlichste Einfluss auf den Charakter. Daraus folgt, dass ältere Menschen, die sich im Ruhestand befinden und nicht mehr arbeiten, ihren sozialen Status verlieren.
    Ein eher typisch amerikanischer Wertekanon hat mit unserer Betonung des Individuums zu tun. Dieser Individualismus ist der Gegenpol zur Priorität der Großfamilie, die zuvor am Beispiel vieler anderer Gesellschaften beschrieben wurde. Das Selbstwertgefühl eines US -Amerikaners bemisst sich nach den eigenen Leistungen, nicht aber nach den kollektiven Leistungen der Großfamilie, zu der jemand gehört. Wir lernen, selbständig zu sein und uns auf uns selbst zu verlassen. Unabhängigkeit, Individualismus und Selbstvertrauen werden als Tugenden gepriesen, die gegenteiligen Eigenschaften – Abhängigkeit sowie die Unfähigkeit, auf eigenen Füßen zu stehen und selbst für sich zu sorgen – sind negativ besetzt. Persönliche Unselbständigkeit gilt für amerikanische Psychiater und Psychologen sogar als klinische Diagnose und wird von der American Psychiatric Association als geistige Störung Nummer  301 . 6 geführt; demnach ist sie ein Zustand, der eine Therapie erfordert, damit die bedauernswerte, abhängige Person die amerikanische Tugend der Selbständigkeit erlangt.
    Ein weiterer Teil dieses amerikanischen Wertsystems ist die starke Gewichtung der individuellen Privatsphäre, auch sie nach den weltweiten kulturellen Maßstäben ein ungewöhnliches Konzept. In den meisten Gesellschaften gibt es nur wenig individuelle Privatsphäre, und sie gilt auch nicht als erstrebenswertes Ideal. Die übliche traditionelle Lebenssituation besteht aus einer Großfamilie, die in einer einzigen Behausung oder in einer Gruppe von Hütten oder Unterkünften rund um eine einzige Lichtung wohnt, oder bei der eine ganze Horde in einer Gemeinschaftsunterkunft schläft. Und was für die meisten modernen Amerikaner undenkbar ist: Selbst Sexualität zwischen zwei Partnern spielt sich traditionell mit einem sehr geringen Maß an Privatsphäre ab. Die Hängematte oder Matte des Paares ist für andere Paare sichtbar, die kleinen Kinder schlafen unter Umständen auf derselben Matte, und man erwartet von ihnen nur, dass sie die Augen schließen. Zu dieser traditionellen Lebensweise mit minimaler Privatsphäre stellt unsere neolokale Wohnsituation, bei der Kinder ihren eigenen, privaten Haushalt gründen, wenn sie das heiratsfähige Alter erreichen, das genaue Gegenteil dar.
    Die Versorgung älterer Menschen läuft all diesen miteinander verflochtenen amerikanischen Werten von Selbständigkeit, Individualismus, Selbstvertrauen und Privatsphäre zuwider. Dass ein Baby abhängig ist, erkennen wir an, denn das Baby war nie unabhängig; wir wehren uns aber gegen die Abhängigkeit der älteren Menschen, die jahrzehntelang selbständig waren. Aber es ist grausame Realität: Alte Menschen erreichen irgendwann einen Zustand, in dem sie nicht mehr unabhängig leben und sich nicht auf ihre eigenen Fähigkeiten verlassen können, und dann haben sie keine andere Wahl, als auf andere angewiesen zu sein und ihre so lange