Vermächtnis
vielleicht Gift enthielten, das man durch irgendeine Zubereitungsmethode unschädlich machen konnte. Glücklicherweise lebten zur Zeit des hungikengi auf der Insel noch einige Menschen, die sich an einen früheren Wirbelsturm und die Bewältigung der Folgen erinnern konnten. Heute war diese alte Frau in ihrem Dorf der letzte noch lebende Mensch, der die entsprechenden Erfahrungen und Kenntnisse geerbt hatte. Würde nun wiederum ein großer Wirbelsturm die Insel treffen, wären ihre enzyklopädischen Erinnerungen an essbare Wildfrüchte das Einzige, was zwischen ihren Mitbewohnern und der Hungersnot stand. Solche Geschichten über die überragende Bedeutung der Erinnerungen alter Menschen für das Überleben ihrer Verwandten gibt es aus Gesellschaften ohne schriftliche Aufzeichnungen in Hülle und Fülle.
Gesellschaftliche Werte
Ob Gesellschaften sich um ihre alten Menschen kümmern oder nicht, hängt also zu einem großen Teil davon ab, wie nützlich die alten Menschen sind. Ein weiterer Grund sind die Werte einer Gesellschaft: Werden alte Menschen respektiert oder verachtet? Wie man leicht erkennt, hängen beide Gründe zusammen: Je nützlicher alte Menschen sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass man sie respektiert. Aber wie in vielen anderen Bereichen der menschlichen Kultur, so besteht auch hier nur ein loser Zusammenhang zwischen Nützlichkeit und Werten: Manche Gesellschaften legen auf den Respekt für die betagten Mitbürger mehr Wert als andere, die ihnen wirtschaftlich zu ähneln scheinen.
Zumindest ein gewisser Respekt für ältere Menschen scheint jedoch in den Gesellschaften der Menschen weit verbreitet zu sein. In den Vereinigten Staaten herrscht eine relativ gemäßigte Form des Respekts neben einer gewissen Entwertungshaltung: Amerikanischen Kindern wird häufig gesagt, sie sollten ältere Menschen respektieren, ihnen nicht widersprechen und ihnen im Bus einen Platz frei machen. Bei den !Kung ist der Respekt stärker, unter anderem deshalb, weil der Anteil älterer Menschen dort wesentlich geringer ist als bei den US -Amerikanern: Nur knapp 20 Prozent aller !Kung erreichen ein Alter von 60 Jahren, und sie verdienen Bewunderung, weil sie Löwen, Unfälle, Krankheiten, Überfälle und andere Gefahren, die sich mit der Lebensweise ihres Volkes verbinden, überlebt haben.
Eine besonders starke Form des Respekts ist die Lehre der Elternliebe, die sich mit Konfuzius verbindet und traditionell in China, Korea, Japan und Taiwan verbreitet war; sie war sogar gesetzlich festgeschrieben, bis die Vorschriften durch die japanische Verfassung von 1948 und die chinesischen Ehegesetze von 1950 geändert wurden. Nach der konfuzianischen Lehre schulden Kinder ihren Eltern absoluten Gehorsam, und Ungehorsam oder Respektlosigkeit gelten als verachtenswert. Konkret haben Kinder (insbesondere die ältesten Söhne) demnach eine heilige Pflicht, ihre Eltern im hohen Alter zu unterstützen. Der Respekt gegenüber den Eltern ist auch heute noch in Ostasien sehr lebendig, und (zumindest bis vor kurzer Zeit) wohnten nahezu alle älteren Chinesen und drei Viertel der älteren Japaner bei ihren Kindern oder ihrer Familie.
Eine andere Form des starken Respekts ist die Betonung des Familienlebens in Süditalien, Mexiko und vielen anderen Gesellschaften. Donald Cowgill beschreibt sie so: »Die Familie gilt als das Kernstück der Sozialstruktur und ist die Quelle eines allumfassenden Einflusses auf ihre Mitglieder … Die Ehre der Familie war entscheidend, und von ihren einzelnen Mitgliedern wurde erwartet, dass sie die männliche Autorität unterstützen, Opfer für die Familie bringen, die Eltern respektieren und dem Familiennamen keine Schande machen … [Der älteste Mann der Familie stand im Ruf eines Paten] als beherrschende Autorität, die für die ganze Familie einheitliche Ziele festsetzte und gespaltene Loyalitäten nicht guthieß … In diesem Rahmen bestand nur ein begrenzter Spielraum für die individuelle Selbstverwirklichung, die in jedem Fall den Familieninteressen unterzuordnen war … Kinder im mittleren Alter bezogen die betagten Eltern in die Tätigkeiten ihrer Kernfamilien ein, und die Vorstellung, man könne die Eltern in einem Pflegeheim unterbringen, wurde von der Mehrheit ausdrücklich abgelehnt.«
Diese Familien der konfuzianischen Chinesen, der Süditaliener und Mexikaner sind Beispiele für ein weitverbreitetes Phänomen, das als patriarchalische Familie bezeichnet wird: Ihre
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