Vermächtnis
geschätzte Privatsphäre aufzugeben. Die Abhängigkeit ist für den betroffenen älteren Menschen mindestens ebenso schmerzvoll wie für das Kind im mittleren Alter, das zusehen muss, wie die früher so selbstsicheren Eltern abhängig werden. Vermutlich kennen viele Leser dieses Kapitels einen älteren Menschen, der aus Selbstachtung darauf beharrte, nach wie vor selbständig zu leben, bis ein Unfall (beispielsweise ein Sturz mit einem Bruch des Hüftgelenks) oder Bettlägerigkeit das weitere Alleinleben unmöglich machte. Die amerikanischen Ideale zwingen ältere Menschen, ihre Selbstachtung zu verlieren, und die jüngeren Pflegepersonen sind gezwungen, den Respekt vor ihnen zu verlieren.
Die letzte typisch amerikanische Wertvorstellung, die zu Vorurteilen gegenüber betagten Menschen führt, ist unser Jugendkult. Dabei handelt es sich natürlich nicht um eine vollkommen willkürliche Einschätzung, die wir uns rein zufällig und ohne guten Grund als kulturelle Vorliebe zu eigen gemacht hätten. Es stimmt tatsächlich: In unserer modernen Welt des schnellen technologischen Wandels ist das Wissen der jungen Erwachsenen, die erst kürzlich ausgebildet wurden, aktueller und sowohl für den Beruf und ähnliche wichtige Dinge als auch für die einfachen Aufgaben des Alltagslebens nützlicher. Ich mit meinen 75 Jahren und meine 64 -jährige Frau werden jedes Mal an diese hinter dem Jugendkult stehende Realität erinnert, wenn wir unseren Fernseher einschalten wollen. Als wir aufwuchsen, waren wir an Fernsehgeräte mit drei Knöpfen gewöhnt, die alle am Gerät selbst angebracht waren: einer für Ein und Aus, einer zur Einstellung der Lautstärke und einer zur Auswahl der Kanäle. Mit den 41 Knöpfen der Fernbedienung, die wir heute nur zum Einschalten unseres modernen Geräts brauchen, kommen meine Frau und ich nicht zurecht; wir müssen unsere 25 -jährigen Söhne anrufen und es uns erklären lassen, wenn sie nicht zufällig bei uns zu Hause sind. Ein anderer äußerer Faktor, der den Jugendkult begünstigt, ist das Konkurrenzbewusstsein in der modernen amerikanischen Gesellschaft: Es verschafft jüngeren Menschen, die mit Geschwindigkeit, Ausdauer, Kraft, Beweglichkeit und schnellen Reflexen ausgestattet sind, einen Vorteil. Und ein dritter Faktor ist die Tatsache, dass so viele Amerikaner die Kinder von Einwanderern sind, die in anderen Ländern geboren und aufgewachsen sind. Diese Kinder haben gesehen, dass ihre betagten Eltern nicht akzentfrei Englisch sprechen konnten und dass ihnen viele wichtige Kenntnisse über das Funktionieren der amerikanischen Gesellschaft fehlten.
Ich stelle also nicht in Abrede, dass es einige stichhaltige Gründe dafür gibt, warum die heutigen Amerikaner der Jugend einen so hohen Wert beimessen. Unser Jugendkult strahlt aber auch in Bereiche aus, in denen er willkürlich und in manchen Fällen höchst unfair zu sein scheint. Wir finden junge Menschen schön und attraktiv, aber warum sollen gelbe, braune oder schwarze Haare eigentlich schöner aussehen als silbergraue oder weiße? Die Fernseh-, Zeitschriften- und Zeitungsreklame für Kleidung zeigt stets junge Models; die Vorstellung, mit einem Model von 70 Jahren Werbung für Herrenhemden oder Damenbekleidung zu machen, kommt uns seltsam vor – aber warum eigentlich? Ein Wirtschaftsexperte würde darauf antworten: Jüngere Menschen wechseln und kaufen häufiger die Kleidung, und ihre Markentreue ist weniger stark ausgeprägt als bei Älteren. Aber nach dieser wirtschaftlichen Interpretation sollte das Zahlenverhältnis von 70 -jährigen und 20 -jährigen Modemodels immer noch ungefähr ebenso groß sein wie das Verhältnis zwischen Umsatz und Markenwechsel der 70 -jährigen und 20 -jährigen Kunden. In Wirklichkeit liegen Umsatz und Markenwechsel von 70 -jährigen sicher nicht so nahe bei null wie der Anteil der 70 -jährigen Modemodels. Ähnlich verhält es sich mit der Werbung für alkoholfreie Getränke, Bier oder neue Autos: Auch hier treten stets junge Models auf (Abb. 23 ) , obwohl ältere Menschen ebenfalls alkoholfreie Getränke konsumieren, Bier trinken und Autos kaufen. Bilder alter Menschen werden nur verwendet, wenn man Inkontinenzeinlagen, Medikamente gegen Arthritis oder Rentenversicherungen verkaufen will (Abb. 24 ) .
Solche Beispiele aus der Welt der Werbung mögen lustig erscheinen, bis man einmal darüber nachdenkt, dass sie nur eine Ausdrucksform der amerikanischen Altersdiskriminierung sind: Sie zeugen
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