Vermächtnis
Ausdruck »Stammesälteste« praktisch als Synonym für Stammesführer verwendet wird. Ganz allgemein gilt das sogar in modernen Staatsgesellschaften: Das Durchschnittsalter beim Amtsantritt liegt für die US -amerikanischen Präsidenten bei 54 und für Richter am Obersten Gerichtshof der USA bei 53 Jahren.
Die vielleicht wichtigste Funktion der älteren Menschen in traditionellen Gesellschaften würde wahrscheinlich den meisten Lesern dieses Buches jedoch nicht in den Sinn kommen. In einer Gesellschaft, die des Lesens und Schreibens kundig ist, sind schriftliche oder digitale Quellen die wichtigsten Informationsspeicher: Enzyklopädien, Bücher, Zeitschriften, Landkarten, Tagebücher, Notizen, Briefe und heute das Internet. Wenn wir uns einer Tatsache versichern wollen, sehen wir in einer schriftlichen Quelle oder online nach. In einer Analphabetengesellschaft besteht diese Möglichkeit nicht: Hier muss man sich auf die Erinnerung der Menschen verlassen. Die Gehirne älterer Menschen sind in einer solchen Gesellschaft die Enzyklopädien und Bibliotheken. Wenn ich in Neuguinea mit Einheimischen spreche und ihnen eine Frage stelle, auf die sie keine sichere Antwort wissen, halten meine Gesprächspartner immer wieder inne und sagen: »Fragen wir doch den alten Mann [oder die alte Frau].« Die älteren Menschen kennen Mythen und Lieder eines Stammes, sie wissen, wer mit wem verwandt ist und wer was wem angetan hat, sie kennen die Namen, Lebensweisen und Anwendungsbereiche für Hunderte von einheimischen Pflanzen- und Tierarten, und sie können sagen, wo man in schlechten Zeiten etwas zu essen findet. Sich um alte Menschen zu kümmern wird also zu einer Frage von Leben und Tod, genau wie die Pflege der Seekarten für moderne Schiffskapitäne eine Frage von Leben und Tod ist. Diesen Wert alter Menschen möchte ich anhand einer Fallgeschichte deutlich machen, in der es um Kenntnisse geht, die für das Überleben eines Stammes unentbehrlich waren.
Die Geschichte erlebte ich 1976 auf Rennell, einer Insel im Südwestpazifik. Man hatte mich dorthin geschickt, weil ich eine Umweltverträglichkeitsstudie für eine geplante Bauxitmine auf der Insel erstellen sollte: Ich wollte herausfinden, wie schnell die Wälder sich regenerieren können, nachdem sie für den Erzabbau gerodet wurden, und welche Baumarten als Lieferanten von Bauholz, essbaren Früchten oder aus anderen Gründen nützlich waren. Die Inselbewohner mittleren Alters nannten mir die Namen von 126 einheimischen Pflanzenarten in der Rennell-Sprache (»anu«, »gangotoba«, »ghai-gha-ghea«, »kagaa-loghu-loghu« usw.). Bei jeder Spezies erklärten sie, ob ihre Samen und Früchte für die Tiere und Menschen ungenießbar waren oder ob sie von Vögeln und Fledermäusen gefressen wurden, aber nicht von Menschen (wobei jeweils der Name der betreffenden Vogel- und Fledermausart genannt wurde), oder ob Menschen sie essen konnten. Unter den für Menschen genießbaren Arten wurden einige ausgesondert und als »sie werden nur nach dem hungikengi gegessen« bezeichnet.
Den Ausdruck »hungikengi« hatte ich noch nie gehört, und so erkundigte ich mich, was das sei und warum er normalerweise ungenießbare Früchte in essbare verwandelte. Zur Erklärung brachten meine Gesprächspartner mich in eine Hütte und machten mich dort mit der Quelle dieser Information bekannt, einer sehr alten Frau, die ohne Hilfe nicht gehen konnte. Wie sich herausstellte, war »hungikengi« auf Renell der Name für den größten Wirbelsturm, der seit Menschengedenken über die Insel hereingebrochen war – nach Aufzeichnungen der europäischen Kolonialbehörden ungefähr um 1910 . Die alte Frau war zu jener Zeit ein Kind und noch nicht ganz im heiratsfähigen Alter gewesen; als ich sie 1976 kennenlernte, war sie demnach Ende 70 oder Anfang 80 . Der Wirbelsturm hatte die Wälder auf Rennell dem Erdboden gleichgemacht, Gärten zerstört und die überlebenden Inselbewohner der Gefahr einer Hungersnot ausgesetzt. Bis die Menschen neue Gärten anlegen und wieder mit der Produktion beginnen konnten, mussten sie alles essen, was genießbar war, darunter nicht nur die normalerweise bevorzugten Arten von Wildfrüchten, sondern auch Früchte, die man normalerweise links liegengelassen hätte; so kam es, dass man mir erklärte, diese Früchte würden »nur nach dem hungikengi« gegessen. Dies erforderte Kenntnisse darüber, ob diese Früchte der zweiten Wahl ungiftig und ungefährlich waren oder ob sie
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