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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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Hauptautorität verkörpert sich im ältesten noch lebenden Mann der Familie. Andere bekannte Beispiele sind viele oder die meisten heutigen Gesellschaften von Viehzüchtern und anderen Gruppen in ländlichen Gebieten; in der Vergangenheit waren es die alten Römer und Hebräer. Wenn man verstehen will, wie patriarchalische Familien organisiert sind, kann man als Kontrast die moderne amerikanische Lebensweise betrachten, die von Anthropologen als »neolokal« bezeichnet wird und vielen Lesern dieses Buches selbstverständlich erscheinen dürfte: Ein frisch verheiratetes Paar gründet getrennt von den Eltern beider Partner einen neuen Haushalt (daher »neolokal«). Dieser besteht aus einer Kernfamilie mit dem Ehepaar und (später) den von ihnen abhängigen Kindern.
    Ein solches Arrangement erscheint uns normal und natürlich, unter geographischen und historischen Gesichtspunkten ist es aber die Ausnahme: Neolokale Haushalte gibt es nur in ungefähr fünf Prozent der traditionellen Gesellschaften. Das am weitesten verbreitete System ist dort der patrilokale Haushalt, das heißt, ein jungverheiratetes Paar wohnt bei den Eltern oder der Familie des Bräutigams. In diesem Fall besteht der Haushalt nicht nur aus der Kernfamilie, sondern aus einer horizontal und vertikal weiter ausgedehnten Großfamilie. Horizontal (das heißt in der Generation des Familienoberhaupts) gehören dazu vielleicht mehrere Ehefrauen des polygamen Patriarchen, die in dem gleichen Familienanwesen wohnen, sowie seine unverheirateten Schwestern und vielleicht auch einige seiner verheirateten jüngeren Geschwister. Eine vertikale Ausdehnung auf andere Generationen ergibt sich, wenn in einem Haus oder auf einem Anwesen neben dem Patriarchen und seiner Ehefrau auch eines oder mehrere ihrer verheirateten Kinder sowie deren Kinder, die Enkel des Patriarchen, wohnen. Ganz gleich, ob es sich um horizontale und/oder vertikale Erweiterungen handelt, immer ist der gesamte Haushalt eine wirtschaftliche, finanzielle, gesellschaftliche und politische Einheit; alle, die dazugehören, führen ein koordiniertes Alltagsleben, und der Patriarch ist die oberste Autorität.
    Ein patrilokaler Haushalt eignet sich natürlich sehr gut dazu, ältere Menschen zu versorgen: Sie leben mit ihren Kindern unter einem Dach, sind Eigentümer des Hauses oder der Häuser und bestimmen darüber und erfreuen sich wirtschaftlicher und körperlicher Sicherheit. Natürlich bietet ein solches Arrangement keine Gewähr dafür, dass Kinder ihre betagten Eltern
lieben
; ihre Gefühle können zwiespältig sein oder werden vielleicht auch von Angst und Respekt vor der Autorität beherrscht, und oftmals warten die Kinder einfach ab, bis auch sie selbst wiederum ihre erwachsenen Kinder tyrannisieren können. Ein neolokaler Haushalt macht die Versorgung der älteren Generation unabhängig von den Gefühlen der Kinder schwieriger, weil Eltern und Kinder räumlich getrennt sind.
    Das entgegengesetzte Extrem zu dieser starken Stellung der älteren Menschen in traditionellen patriarchalischen Gesellschaften ist ihr Status in großen Teilen der modernen amerikanischen Gesellschaft (mit auffälligen Ausnahmen in den Gemeinschaften der Einwanderer, die ihre traditionellen Werte beibehalten haben). Um Cowgills Liste der bedrückenden Eigenschaften zu zitieren: »Wir assoziieren das hohe Alter mit Nutzlosigkeit, Gebrechlichkeit, Krankheit, Senilität, Armut, dem Verlust der Sexualität, Unfruchtbarkeit und Tod.« Solche Ansichten haben konkrete Folgen für die beruflichen Möglichkeiten und die medizinische Versorgung älterer Menschen. Ein obligatorisches Ruhestandsalter war bis vor kurzem in den Vereinigten Staaten allgemein üblich und ist es in Europa immer noch. Arbeitgeber halten ältere Menschen für festgefahren, weniger flexibel und weniger lernfähig; deshalb investieren sie lieber in junge Mitarbeiter, von denen sie glauben, sie seien flexibler und leichter auszubilden. Joanna Lahey vom Center for Retirement Research des Boston College schickte im Rahmen einer experimentellen Untersuchung fingierte Lebensläufe, die sich nur im Namen und Alter der angeblichen Bewerber unterschieden, an potentielle Arbeitgeber. Wie sich dabei herausstellte, wird eine Frau im Alter zwischen 35 und 45  Jahren mit einer um 43  Prozent höheren Wahrscheinlichkeit zum Einstellungsgespräch für eine Berufsanfängertätigkeit eingeladen als eine Bewerberin von 50 bis 62  Jahren. Das in Krankenhäusern ausdrücklich

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