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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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gern Wildfleisch, den Jüngeren aber war dies verboten und mit der Warnung verbunden, es werde sie so ängstlich wie ein Reh machen. In Sibirien tranken alte Tschuktschen Rentiermilch, was Jüngeren verboten war; angeblich diente dies dem Schutz jüngerer Menschen: Es wurde behauptet, die Milch mache junge Männer impotent und sorge bei jungen Frauen für Hängebrüste.
    Über ein besonders kompliziertes System von Nahrungstabus wurde von den Aranda (auch Arunta genannt) berichtet, einer Gruppe von Aborigines nicht weit von Alice Springs in der zentralaustralischen Wüste. Dort waren die besten Lebensmittel den alten Menschen und insbesondere alten Männern vorbehalten, und diese sprachen davon, welch schreckliche Folgen es für junge Menschen haben würde, wenn sie so töricht wären, die verbotenen Lebensmittel zu sich zu nehmen. Ein junger Mann, der ein Nasenbeutlerweibchen aß, würde angeblich bei der Beschneidung verbluten; Emufett sollte eine anormale Entwicklung des Penis nach sich ziehen; der Verzehr von Papageien sollte dazu führen, dass sich oben auf dem Kopf ein Hohlraum und im Kinn ein Loch entwickelte; und Wildkatzen sollten bewirken, dass sich an Kopf und Hals schmerzhafte, faulig riechende Ausschläge entwickelten. Junge Frauen wurden vor weiteren Gefahren gewarnt: Hier sollte der Verzehr von Nasenbeutlerweibchen angeblich die Menstruationsblutung verstärken, Känguruschwänze sollten zu vorzeitiger Alterung und Haarausfall führen, Wachteln sollten die Entwicklung der Brust behindern, und das Fleisch von Habichtfalken hatte angeblich die umgekehrte Wirkung, die Brust anschwellen zu lassen, bis sie platzte, ohne aber Milch zu produzieren.
    Auch eine andere Ressource vereinnahmten die alten Männer in vielen Gesellschaften ausschließlich für sich, während sie für jüngere Männer tabu war: junge Frauen. Die Regeln besagten, dass ältere Männer viel jüngere Frauen heiraten und mehrere Ehefrauen haben sollten; junge Männer dagegen sollten nicht damit rechnen, dass sie heiraten konnten, bevor sie 40  Jahre oder älter waren. Auf der langen Liste der traditionellen Gesellschaften, in denen solche Praktiken üblich waren, stehen unter anderem die Akamba aus Ostafrika, die Indianer von Araucania in Südamerika, die westafrikanischen Bakong, die Bewohner der Banks-Inseln im Südwestpazifik, die Berber aus Nordafrika, die Tschuktschen in Sibirien, die Iban aus Borneo, die Labrador-Inuit in Kanada, die Xhosa in Südafrika und viele Stämme der australischen Ureinwohner. Mir begegnete ein solcher Fall bei einem Stamm von Tieflandbewohnern im Norden Neuguineas: Dort machte mich ein alter, lahmer Mann namens Uteno auf ein Mädchen aufmerksam, das dem Aussehen nach noch keine zehn Jahre alt war, und erklärte dazu, er habe sie als seine zukünftige Braut »gekennzeichnet«. Schon kurz nach ihrer Geburt hatte er eine Anzahlung geleistet, danach hatte er in regelmäßigen Abständen weitere Abgaben an die Eltern gezahlt, und jetzt rechnete er damit, dass er sie heiraten konnte, sobald sich ihre Brüste entwickelten und sie ihre erste Menstruation hatte.
    Im Zusammenhang mit Nahrungstabus und anderen Privilegien älterer Menschen muss man fragen, warum jüngere Menschen sich in solche Regeln fügen und sich der Autorität der Älteren unterwerfen. Für junge Männer liegt das teilweise daran, dass sie damit rechnen, selbst irgendwann an der Reihe zu sein. Bis es so weit ist, lungern sie um das Lagerfeuer herum und suchen nach Gelegenheiten für sexuelle Befriedigung, wenn der alte Ehemann gerade nicht in der Nähe ist.
    Diese beispielhaft beschriebenen Regeln, mit denen die Älteren in vielen traditionellen Gesellschaften dafür sorgen, dass man sich um sie kümmert – durch Nahrungstabus und indem junge Ehefrauen strikt älteren Männern vorbehalten sind –, gelten in der modernen Industriegesellschaft nicht. Deshalb fragen wir uns, warum die jungen Menschen in solchen traditionellen Gesellschaften derartige Regeln hinnehmen. Mein letztes Beispiel wird den Lesern dieses Buches viel bekannter vorkommen: das Zurückhalten von Eigentumsrechten durch die Älteren. Wie in vielen traditionellen Gesellschaften, so geben die meisten alten Menschen auch in der Gesellschaft unserer Zeit ihr Eigentum nur durch Erbschaft zum Zeitpunkt ihres Todes weiter. Damit trägt die im Hintergrund lauernde Drohung, der ältere Mensch könne sein Testament ändern, zur Motivation der Jüngeren bei, sich um ihre betagten

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