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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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hätte man nichts zu essen. Umweltbedingte Gefahren machen also in abgewandelter Form das Wayne-Gretzky-Prinzip deutlich: Wenn man nicht schießt, trifft man auch nicht daneben, aber man hat auch unter Garantie kein Tor geschossen. Traditionelle Wildbeuter und Bauern müssen sogar noch stärker als Wayne Gretzky das Gleichgewicht zwischen den Gefahren und dem überragenden Bedarf nach einer stetigen Folge von Punktgewinnen finden. Ähnlich ergeht es auch uns modernen Stadtbewohnern: Autounfälle, die größte Gefahr des Stadtlebens, können wir vermeiden, wenn wir zu Hause bleiben und uns nicht den vielen tausend anderen Autofahrern aussetzen, die mit 100 bis 200  Stundenkilometern unberechenbar über die Autobahnen rasen. Aber die meisten von uns sind für Berufstätigkeit und Einkauf auf das Autofahren angewiesen. Wayne Gretzky würde sagen: ohne Fahren kein Gehalt und nichts zu essen.
    Wachsamkeit
    Wie gehen traditionelle Völker mit der Realität eines Lebens um, in dem ständig Gefahren aus der Umwelt drohen? Zu ihren Reaktionen gehören die in Kapitel  7 erläuterte konstruktive Paranoia, religiöse Praktiken, von denen in Kapitel  9 die Rede sein wird, sowie mehrere andere Handlungsweisen und Einstellungen.
    Die !Kung sind ständig auf der Hut. Wenn sie Nahrung sammeln oder im Busch unterwegs sind, spähen und lauschen sie ständig nach Tieren und Menschen, und aus der Untersuchung von Spuren im Sand ziehen sie Schlüsse darauf, welches Tier oder welcher Mensch die Fährte hinterlassen hat, in welche Richtung er mit welcher Geschwindigkeit unterwegs war, wie lange es her ist und ob man infolgedessen die eigenen Pläne ändern sollte. Selbst im Lager müssen sie trotz der Abschreckungswirkung von Menschen, Lärm und Feuer wachsam bleiben: Manchmal dringen Tiere – insbesondere Schlangen – ins Lager ein. Lässt sich im Lager eine große, als Schwarze Mamba bekannte Giftschlange sehen, geben die !Kung in den meisten Fällen eher das Lager auf, als dass sie versuchen, die Schlange zu töten. Uns mag das wie eine Überreaktion vorkommen, aber die Schwarze Mamba ist wegen ihrer gewaltigen Größe (bis zu zweieinhalb Meter), ihrer schnellen Bewegungen, ihrer langen Fangzähne und ihres hochwirksamen Nervengiftes eine der gefährlichsten Schlangen Afrikas; ihr Biss ist in den meisten Fällen tödlich.
    In jeder gefährlichen Umgebung lehren einen die gesammelten Erfahrungen, die Risiken mit Hilfe bestimmter Verhaltensweisen so gering wie möglich zu halten, und die Regeln zu befolgen lohnt sich auch dann, wenn ein Außenstehender darin eine Überreaktion sieht. Was Jane Goodale über die Einstellung der Kaulong im Regenwald von Neubritannien schrieb, gilt ebenso auch für traditionelle Völker in anderen Regionen; man muss nur die Einzelbeispiele austauschen: »Unfallverhütung ist wichtig, und das Wissen, wie, wann und unter welchen Umständen man ein bestimmtes Unternehmen in Angriff nehmen sollte oder nicht, ist für den persönlichen Erfolg und das Überleben unentbehrlich. Von Bedeutung ist dabei, dass alle Neuerungen in Methoden oder Verhalten, die mit der natürlichen Umwelt zu tun haben, als äußerst gefährlich gelten. Es gibt ein recht schmales Spektrum der richtigen Verhaltensweisen, und außerhalb davon besteht die eindeutige, oftmals ausdrücklich benannte Gefahr, dass sich plötzlich der Boden unter den Füßen auftut, dass ein Baum umstürzt, wenn man gerade an ihm vorübergeht, oder dass das Wasser plötzlich ansteigt, während man versucht, ans andere Ufer zu gelangen. So sagte man mir beispielsweise, ich solle nicht über die Steine an der Oberfläche unseres Flusses springen (›es wird eine Flut kommen‹); ich solle nicht mit dem Feuer spielen (›der Boden wird sich auftun‹ oder ›das Feuer wird nicht dein Essen kochen, sondern dich verbrennen‹); ich solle nicht den Namen von Höhlenfledermäusen aussprechen, während ich sie jagte (›die Höhle wird einstürzen‹); und auch vieles andere, was ich ›nicht tun sollte‹, war mit ähnlichen Sanktionen der natürlichen Umwelt belegt.« Die gleiche Einstellung steht auch hinter einer Lebensphilosophie, die ein Freund aus Neuguinea mir gegenüber so zusammenfasste: »Alles geschieht aus einem Grund, also muss man vorsichtig sein.«
    Eine Form, mit Gefahren umzugehen, die im Westen weit verbreitet ist, habe ich bei erfahrenen Neuguineern kein einziges Mal angetroffen: das Macho-Gehabe, mit dem man nach gefährlichen Situationen sucht

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