Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
Vom Netzwerk:
. Jahrhundert anfingen, den !Kung alljährlich Besuche abzustatten und mit ihnen Handel zu treiben. Wie wir in Kapitel  4 erfahren hatten, hatten auch Besuche von Kaufleuten bei den Inuit die Wirkung, Kriege zu unterdrücken, obwohl die Händler weder bei den Inuit noch bei den !Kung vorhatten, Kriege zu verhindern. Die Inuit gaben vielmehr den Krieg im eigenen Interesse auf, weil sie dann mehr Gelegenheiten hatten, vom Handel zu profitieren; bei den !Kung dürfte es genauso gewesen sein.
    Was die Mordquote bei den !Kung angeht, so sind 22  Tötungsdelikte im Laufe von 49  Jahren weniger als ein Mord alle zwei Jahre. Dem Leser amerikanischer Großstadtzeitungen erscheint das völlig belanglos, denn wir können die Zeitung an jedem zufällig ausgewählten Tag aufschlagen, und immer lesen wir über all die Morde, die in der Stadt während der letzten 24  Stunden begangen wurden. Dieser Unterschied findet seine wichtigste Erklärung natürlich darin, dass die Bevölkerung, in der sich Morde ereignen können, in einer amerikanischen Großstadt aus Millionen von Menschen besteht, während die von Lee untersuchte !Kung-Population nur ungefähr 1500 Menschen umfasste. Nimmt man diese Zahl als Grundlage, errechnet sich die Mordquote für die !Kung auf 29  Morde je 100 000 Personenjahre, das ist ungefähr das Dreifache der Mordquote in den Vereinigten Staaten und das Zehn- bis Dreißigfache der Quoten in Kanada, Großbritannien, Frankreich und Deutschland. Nun könnte man einwenden, dass die Berechnung in den Vereinigten Staaten kriegsbedingte gewaltsame Todesfälle nicht einbezieht – ansonsten würde man zu einer höheren Quote gelangen. Die Quote für die !Kung bezieht aber »Kriegsopfer« (das heißt die Opfer der Überfallexpeditionen, die vor mehr als 100  Jahren zu Ende gingen) ebenfalls nicht mit ein; deren Zahl ist bei den !Kung völlig unbekannt, bei vielen anderen traditionellen Völkern liegt sie aber bekannterweise sehr hoch.
    Die Zahl von 22  Morden in 49  Jahren bei den !Kung ist auch aus einem anderen Grund aufschlussreich. Wenn alle 27  Monate ein Mord stattfindet, besteht für einen Anthropologen, der eine einjährige Feldstudie an einem Volk durchführt, nur eine geringe Chance, dass sich während dieses Zeitraumes gerade ein Mord ereignet, und der Anthropologe würde das Volk als friedlich bezeichnen. Selbst wenn er fünf Jahre bei dem Volk lebt – ein Zeitraum, der so lang ist, dass angesichts der Mordquote bei den !Kung wahrscheinlich ein Mensch getötet wird –, findet die Tat höchstwahrscheinlich nicht vor den Augen des Anthropologen statt, so dass seine Einschätzung der Häufigkeit von Gewalt davon abhängt, ob seine Informanten ihm davon berichten. Ähnliches gilt auch für die Vereinigten Staaten, die als eine Gesellschaft mit besonders hoher Mordquote gelten: Ich war nie persönlich Zeuge eines Mordes und habe auch aus meinem Bekanntenkreis nur wenige Berichte aus erster Hand über Tötungsdelikte gehört. Nancy Howells Berechnungen legen die Vermutung nahe, dass Gewalt bei den !Kung die zweithäufigste Todesursache war, nach Infektions- und Parasitenkrankheiten, aber noch vor Verfallskrankheiten und Unfällen.
    Interessant ist auch die Frage, warum die gewaltsamen Todesfälle bei den !Kung in jüngerer Zeit endeten. Der letzte Mord, von dem Lee erfuhr, ereignete sich im Frühjahr 1955 , als zwei !Kung-Männer einen dritten töteten. Die Mörder wurden von der Polizei festgenommen, vor Gericht gestellt und inhaftiert; in ihre Heimatregion kehrten sie nicht mehr zurück. Dieser Vorgang spielte sich nur drei Jahre nach dem ersten Fall ab, in dem die Polizei eingegriffen und einen Mörder von den !Kung ins Gefängnis gebracht hatte. Von 1955 bis zum Erscheinen von Lees Analyse im Jahr 1979 gab es in seinem Untersuchungsgebiet keine weiteren Morde mehr. Dieser Verlauf macht deutlich, wie stark eine wirksame staatliche Kontrolle dazu beiträgt, die Gewalt zu verringern. Die gleiche Rolle zeigt sich auch an wichtigen Tatsachen aus der Kolonial- und Nachkolonialgeschichte Neuguineas in den letzten 50  Jahren: Nachdem Australien im Osten und Indonesien im Westen der Insel die Kontrolle über abgelegene Gebiete übernommen hatten, die zuvor keine staatliche Regierung hatten, ging die Gewalt drastisch zurück; in Indonesisch-Neuguinea, wo eine strenge staatliche Kontrolle besteht, ist das Gewaltniveau nach wie vor niedrig; und in Papua-Neuguinea stieg die Gewalt wieder an, nachdem die

Weitere Kostenlose Bücher