Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
Vom Netzwerk:
Gift, und das hat zur Folge, dass ein versehentlicher Kratzer mit einem Pfeil bei diesem Volk die häufigste Ursache von Jagdunfällen ist. Auf der ganzen Welt verletzen sich traditionelle Völker genau wie moderne Köche und Waldarbeiter gelegentlich mit ihren eigenen Messern und Äxten.
    Weniger heldenhaft und viel häufiger als Löwen oder Blitzschläge sind bescheidene Insektenstiche und Dornenkratzer als Ursachen für tödliche Unfälle oder Verletzungen. In dem feuchten Tropenklima entzündet sich nahezu jeder Stich oder Kratzer, selbst wenn er nur von einer kleinen Mücke, einem Egel, einer Laus, einer Mücke oder einer Zecke stammt; wird er nicht behandelt, entwickelt sich daraus ein quälender Abszess. Als ich beispielsweise noch einmal meinen neuguineischen Freund Peter besuchte, mit dem ich zwei Jahre zuvor mehrere Wochen durch den Wald gewandert war, stellte ich zu meinem Schrecken fest, dass er ans Haus gefesselt war und nicht mehr gehen konnte – die Folge eines kleinen Kratzers, der sich infiziert hatte; er sprach schnell auf die Antibiotika an, die ich bei mir hatte, die aber Dorfbewohner in Neuguinea nicht besitzen. Ameisen, Bienen, Hundertfüßer, Skorpione, Spinnen und Wespen stechen oder beißen nicht nur, sondern sie spritzen auch ein Gift in den Organismus, das manchmal tödlich sein kann. Neben umstürzenden Bäumen sind Wespenstiche und Ameisenbisse die Gefahren, vor denen meine neuguineischen Freunde im Wald am meisten Angst haben. Manche Insekten legen Eier unter der Haut ab, und die Larve, die daraus schlüpft, verursacht einen großen, dauerhaft entstellenden Abszess.
    Obwohl Unfälle in traditionellen Gesellschaften also vielfältige Ursachen haben können, kann man einige allgemeine Aussagen machen. Zu den schwerwiegenden Folgen von Unfällen gehört nicht nur der Tod selbst. Auch wenn man überlebt, besteht die Möglichkeit einer vorübergehend oder dauerhaft verminderten körperlichen Leistungsfähigkeit; die Folgen: Man kann die eigenen Kinder und andere Verwandte nicht mehr ausreichend versorgen, die Widerstandsfähigkeit gegen Krankheiten ist geringer, und es kommt zu Behinderungen und dem Verlust von Gliedmaßen. Wegen dieser »geringfügigen« Folgen – und nicht wegen der Todesgefahr – haben meine Freunde in Neuguinea und ich so große Angst vor Ameisen, Wespen und infizierten Dornenkratzern. Ein Giftschlangenbiss, den das Opfer überlebt, kann zum Wundbrand führen, so dass der Betroffene am Ende gelähmt oder entstellt ist oder den Arm oder das Bein verliert.
    Wie die allgegenwärtige Gefahr des Verhungerns, von der später in diesem Kapitel noch die Rede sein wird, so haben auch umweltbedingte Risiken weit größeren Einfluss auf das Verhalten der Menschen, als man es aufgrund der Zahl der Todesfälle oder Verletzungen vermuten würde. Die Zahl der Todesfälle dürfte wahrscheinlich sogar gerade deshalb so niedrig sein, weil die Menschen mit ihrem Verhalten eine Menge in die Verminderung der Gefahren investieren. So sind beispielsweise Löwen und andere große Raubtiere bei den !Kung nur für fünf von 1000 Todesfällen verantwortlich; das könnte Anlass zu der falschen Schlussfolgerung geben, Löwen würden für das Leben der !Kung keine große Rolle spielen. In Wirklichkeit spiegelt sich in der niedrigen Opferzahl der weitreichende Einfluss der Löwen auf das Leben der !Kung wider. In Neuguinea, wo es keine gefährlichen Raubtiere gibt, gehen die Menschen nachts auf die Jagd; die !Kung tun das nicht, einerseits weil es dann schwierig wäre, gefährliche Tiere und ihre Spuren ausfindig zu machen, andererseits aber auch, weil die gefährlichen Raubtiere selbst nachts besonders aktiv sind. !Kung-Frauen gehen immer gruppenweise auf Nahrungssuche, machen ständig Lärm und sprechen laut miteinander, damit sie nicht von Tieren überrascht werden; sie suchen nach Spuren und vermeiden es, schnell zu laufen (weil das ein Raubtier zum Angriff veranlassen könnte). Wenn in der Nähe ein Raubtier gesehen wird, schränken die !Kung ihre Ausflüge aus dem Lager unter Umständen für einen oder zwei Tage ein.
    Die meisten Unfälle – durch Raubtiere, Schlangen, umstürzende Bäume, den Absturz aus Bäumen, Waldbrände, Erfrieren, Verirren, Ertrinken, Insektenstiche und Dornenkratzer – ereignen sich auf Ausflügen, auf denen Lebensmittel gesammelt oder produziert werden. Sie ließen sich also in den meisten Fällen vermeiden, wenn man zu Hause oder im Lager bleibt, aber dann

Weitere Kostenlose Bücher