Vermächtnis
Arktis eine Gefahr dar, nicht aber für die !Kung in der Kalahari, und von einem umstürzenden Baum erschlagen oder von einer Giftschlange gebissen zu werden sind Risiken für die Aka-Pygmäen und die Ache, aber nicht für die Inuit. Das Risiko, in eine einstürzende unterirdische Höhle zu fallen, besteht für die Kaulong, aber für keine andere der sieben Gruppen auf der Liste, denn nur die Kaulong leben in einer Umgebung, in der es viele ausgewaschene Hohlräume mit dünner Abdeckung gibt. Wie man ebenfalls leicht erkennt, wirft Tab. 3 die Unterschiede zwischen Geschlechtern und Altersgruppen innerhalb einer Gesellschaft in einen Topf: Bei den Ache, den !Kung und vielen anderen Völkern kommen mehr Männer als Frauen durch Unfälle ums Leben, und das nicht nur, weil Männer bei der Jagd auf Tiere größeren Gefahren ausgesetzt sind als die Frauen beim Sammeln von Pflanzen, sondern auch, weil Männer in der Regel risikofreudiger sind. Dennoch ist die Tab. 3 so aussagekräftig, dass einige Schlussfolgerungen naheliegen.
Ache (Paraguay)
1 . Giftschlangen; 2 . Jaguare, Blitze, Verirren; 3 . Umstürzende Bäume, Sturz vom Baum, infizierte Insektenstiche und Dornenkratzer, Feuer, Ertrinken, Erfrieren, Axthiebe
!Kung (südliches Afrika)
1 . Giftpfeile; 2 . Feuer, Großtiere, Giftschlangen, Sturz vom Baum, infizierte Dornenkratzer, Erfrieren; 3 . Verirren, Blitze
Aka-Pygmäen (Zentralafrika)
Sturz vom Baum, umstürzende Bäume, Großtiere, Giftschlangen, Ertrinken
Hochland in Neuguinea
1 . Feuer, Sturz vom Baum, infizierte Insektenstiche und Dornenkratzer; 2 . Erfrieren, Verirren
Fayu (Neuguinea, Flachland)
Skorpione und Spinnen, Giftschlangen, Schweine und Krokodile, Feuer, Ertrinken
Kaulong (Neubritannien)
1 . Umstürzende Bäume; 2 . Sturz vom Baum, Ertrinken, Axt- und Messerverletzungen, Einsturz unterirdischer Hohlräume
Agta (Philippinen)
Umstürzende Bäume, Sturz vom Baum, Ertrinken, Jagd- und Fischereiunfälle
Tabelle 3 : Ursachen unfallbedingter Todesfälle und Verletzungen
Als Erstes fällt auf, dass in der Tabelle keine der Hauptursachen für unfallbedingte Todesfälle in der modernen westlichen Gesellschaft vorkommen: In der Reihenfolge der Opferzahlen sterben wir durch Autos (Abb. 44 ) , Alkohol, Schusswaffen, chirurgische Eingriffe und Motorräder, aber mit Ausnahme des Alkohols ist nichts davon für traditionelle Völker eine Gefahr. Man kann sich fragen, ob wir vielleicht nur unsere alten Gefahren – Löwen und umstürzende Bäume – gegen neue wie Autos und Alkohol eingetauscht haben. Aber neben den einzelnen Gefahren bestehen zwischen modernen und traditionellen Gesellschaften hinsichtlich der umweltbedingten Risiken noch zwei weitere große Unterschiede. Einer besteht darin, dass das Gesamtrisiko, durch einen Unfall ums Leben zu kommen, in modernen Gesellschaften wahrscheinlich niedriger ist, weil wir eine viel größere Kontrolle über unsere Umwelt ausüben, auch wenn diese Umwelt neue, von uns selbst geschaffene Gefahren wie beispielsweise die Autos beinhaltet. Und dank der modernen Medizin – das ist der zweite Unterschied – wird der von Unfällen verursachte Schaden in einer weitaus größeren Zahl von Fällen repariert, bevor wir daran sterben oder lebenslange Behinderungen davontragen. Als in meiner Hand eine Sehne abriss, wurde sie von einem Chirurgen geschient, und nach einem halben Jahr war die Hand geheilt und wieder vollständig funktionsfähig. Bei manchen meiner Freunde aus Neuguinea dagegen, die Sehnenabrisse oder Knochenbrüche erlitten hatten, trat dagegen keine oder nur eine unvollständige Heilung ein, und sie waren für ihr ganzes weiteres Leben behindert.
Diese beiden Unterschiede sind einer der Gründe, warum traditionelle Völker so bereitwillig ihre Lebensweise im Dschungel aufgeben, obwohl diese in abstrakter Form von den Menschen im Westen, die nicht selbst so leben müssen, bewundert wird. Sie erklären beispielsweise, warum viele Ache-Indianer die Freiheit eines Jägerlebens im Wald aufgeben und sich in Reservaten niederlassen, obwohl dies Außenstehenden vielfach als Degradierung erscheint. Ähnlich erging es einem meiner Bekannten aus Amerika, der um die halbe Welt reiste, um eine kurz zuvor entdeckte Horde von Jägern und Sammlern im Wald von Neuguinea kennenzulernen, und dann feststellen musste, dass die Hälfte von ihnen sich bereits entschlossen hatten, in ein indonesisches Dorf umzuziehen und T-Shirts zu tragen, weil das Leben dort sicherer und
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