Vermächtnis
zeitliche Durchschnittsertrag, aber desto geringer war auch die Gefahr, dass er irgendwann einmal unter die Hungergrenze sank. Ein Beispiel ist eine Familie, die Goland mit Q bezeichnete. Sie bestand aus einem Ehemann und einer Ehefrau mittleren Alters sowie einer 15 -jährigen Tochter und brauchte schätzungsweise 1 , 35 Tonnen Kartoffeln je Hektar und Jahr, um nicht Hunger zu leiden. Nur an einer einzigen Stelle Anbau zu betreiben hätte für diese Familie in jedem einzelnen Jahr ein hohes Risiko ( 37 Prozent!) bedeutet, zu verhungern. Wenn diese Familie in einem schlechten Jahr, wie es ungefähr alle drei Jahre auftrat, verhungert wäre, hätte sie auch keinen Trost in dem Gedanken gefunden, dass sie durch Auswahl einer einzigen Anbaufläche einen zeitlichen Durchschnittsertrag von 3 , 4 Tonnen je Hektar hätte erzielen können, mehr als das Doppelte der Menge, mit der man gerade eben nicht verhungerte. Auch bei Kombinationen aus bis zu sechs Feldern waren sie noch dem Risiko ausgesetzt, gelegentlich zu verhungern. Erst wenn sie mindestens sieben Stellen bewirtschafteten, sank das Risiko, zu verhungern, auf null. Der Durchschnittsertrag für mindestens sieben Stellen sank damit zwar auf 1 , 9 Tonnen je Hektar, aber er lag nie unter den 1 , 5 Tonnen, und sie mussten nie Hunger leiden.
Die Zahl der Felder, die von Golands 20 Familien bewirtschaftet wurden, lag im Durchschnitt jeweils um zwei oder drei Felder höher als die Zahl, die nach ihren Berechnungen zur Vermeidung von Hunger notwendig war. Natürlich waren die Bauern wegen der verstreut liegenden Felder gezwungen, mehr Kalorien für das Gehen und für den Transport von Gegenständen zwischen den Anbauflächen aufzuwenden. Aber diese zusätzlich verbrannten Kalorien machten nach Golands Berechnungen nur sieben Prozent der von den Nutzpflanzen gelieferten Kalorienzahl aus und waren damit ein durchaus annehmbarer Preis für die Vermeidung des Hungers.
Kurz gesagt, hatten Golands Andenbauern durch lange Erfahrung und ohne jede statistische oder mathematische Analyse herausgefunden, wie sie ihr Land gerade so weit zerstückeln mussten, dass sie vor dem Risiko, aufgrund unberechenbarer lokaler Schwankungen der Lebensmittelerträge zu verhungern, geschützt waren. Ihre Strategie passt zu dem Sprichwort »nicht alles auf eine Karte setzen«. Ähnliche Überlegungen sind wahrscheinlich auch die Erklärung für die zerstückelten Felder der Bauern im englischen Mittelalter. Ebenso dürften sie der Grund dafür sein, warum die Bauern am Titicacasee, die von empörten Landwirtschaftsexperten wegen ihrer erschreckenden Ineffizienz so heftig kritisiert wurden, in Wirklichkeit schlau waren und warum in Wirklichkeit der Rat der Wissenschaftler, Land untereinander auszutauschen, alles andere als gut war. Und was meinen Freund aus Neuguinea angeht, dessen abseits und mehrere Kilometer von seinen anderen Anbauflächen entfernt gelegener Garten mir anfangs rätselhaft erschienen war, so nennt auch sein Volk fünf Gründe für die Verteilung der Gärten: Sie soll die Gefahr verringern, dass alle Gärten gleichzeitig durch Sturm, Pflanzenkrankheiten, Schweine oder Ratten zerstört werden, und man will ein breiteres Spektrum verschiedener Pflanzen ernten, die in drei verschiedenen Höhenlagen und verschiedenen Klimazonen angebaut werden. Die Bauern in Neuguinea machen es also ähnlich wie Golands Bauern in den Anden, nur legen sie weniger, dafür aber größere Gärten an (in Neuguinea sind es im Durchschnitt sieben Gärten mit einer Schwankungsbreite zwischen fünf und elf, in den Anden durchschnittlich 17 mit einer Schwankungsbreite zwischen 9 und 26 ).
Amerikanische Investoren übersehen viel zu häufig einen Unterschied, den Bauern auf der ganzen Welt kennen: Ein im zeitlichen Durchschnitt maximaler Ertrag ist etwas anderes, als dafür zu sorgen, dass die Erträge nie unter eine kritische Schwelle sinken. Wenn man Geld investiert, das man in nächster Zeit nicht braucht und das man in die entfernte Zukunft oder in Luxus stecken will, ist es richtig, im zeitlichen Durchschnitt einen maximalen Ertrag anzustreben, ganz gleich, ob der Ertrag in einzelnen schlechten Jahren null oder sogar negativ wird. Ist man aber darauf angewiesen, mit den Erträgen der Investitionen die laufenden Ausgaben zu bestreiten, sollte man die gleiche Strategie verfolgen wie die Bauern und dafür sorgen, dass die jährlichen Erträge immer über dem für die Selbsterhaltung notwendigen Niveau
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