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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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von ihnen gesehen und hatte keine Ahnung, wie sie aussahen und wie sie sich kleideten. Aber ihr Dorf lag so nahe, dass ich einmal Trommeln aus dem Dorf südlich der Wasserscheide hörte, während gleichzeitig aus dem Dorf im Norden leise Rufe zu vernehmen waren. Als mein Bergführer und ich zum Lager zurückgingen, machten wir dumme Witze darüber, was wir jemandem vom Fluss antun würden, wenn wir ihn hier erwischten. Gerade als der Weg um eine Ecke bog und wir fast beim Lager waren, machte mein Begleiter plötzlich keine Witze mehr. Er hob die Hand an den Mund und warnte mich im Flüsterton: »Psst! Flussleute!«
    In unserem Lager unterhielt sich eine Gruppe meiner Bekannten aus den Bergen mit sechs Personen, die ich noch nie gesehen hatte: drei Männer, zwei Frauen und ein Kind. Da hatte ich sie nun endlich vor mir, die gefürchteten Flussleute! Sie waren nicht die gefährlichen Ungeheuer, als die ich sie mir unbewusst vorgestellt hatte, sondern sahen wie ganz normale Neuguineer aus, nicht anders als die Gebirgsbewohner, bei denen ich zu Gast war. Das Kind vom Fluss und die beiden Frauen waren alles andere als angsteinflößend. Die drei Männer hatten Pfeile und Bogen bei sich (wie auch alle Männer aus den Bergen), trugen aber T-Shirts und machten nicht den Eindruck, als wären sie zum Kampf gerüstet. Das Gespräch zwischen Fluss- und Gebirgsleuten wirkte freundlich und frei von Spannungen. Wie sich herausstellte, war diese Gruppe der Flussleute auf dem Weg zur Küste, und es war ihnen wichtig gewesen, unser Lager aufzusuchen – vielleicht wollten sie sicher sein, dass ihre friedlichen Absichten nicht missverstanden wurden und dass wir sie nicht angriffen.
    Für die Gebirgs- und Flussleute war der Besuch offenbar ein Teil ihrer normalen, vielschichtigen Beziehung, zu der ein breites Spektrum verschiedener Verhaltensweisen gehörte: in seltenen Fällen heimliche Morde; öfter angebliche Morde durch Gift und Zauberei; die gegenseitig anerkannte Berechtigung, bestimmte Dinge zu tun (beispielsweise den Transitweg zur Küste zu benutzen und gesellige Besuche zu machen), andere aber nicht (zum Beispiel auf dem Transitweg Nahrung und Holz zu sammeln oder Wasser zu holen); in anderen Fragen (wie der Hütte und dem Garten) Meinungsverschiedenheiten, die manchmal in Gewalt ausarteten; und gelegentliche gegenseitige Eheschließungen ungefähr mit der gleichen Häufigkeit wie die heimlichen Morde (das heißt alle paar Generationen). Und das alles zwischen zwei Gruppen von Menschen, die für mich gleich aussahen, verschiedene, aber verwandte Sprachen benutzten, die Sprache des jeweils anderen verstanden, sich gegenseitig mit Begriffen bezeichneten, die normalerweise für böse Konkurrenten reserviert waren, und sich beiderseits als schlimmste Feinde betrachteten.
    Einander ausschließende Territorien
    Theoretisch könnten die räumlichen Beziehungen zwischen benachbarten traditionellen Gesellschaften ein ganzes Spektrum verschiedener Prinzipien umfassen, von einander nicht überschneidenden, exklusiven Territorien, die eindeutig festgelegte, bewachte Grenzen haben und nicht gemeinsam genutzt werden, bis zum freien Zugang aller zu allen Landflächen ohne anerkannte eigene Territorien. Vermutlich hält sich keine Gesellschaft streng an eine dieser beiden Extremformen, manche kommen allerdings dem ersten recht nahe. Meine Freunde in den Bergen zum Beispiel, von denen ich gerade berichtet habe, sind nicht weit davon entfernt: Sie haben Territorien mit genau definierten Grenzen, die sie auch bewachen. Sie beanspruchen die Ressourcen auf ihrem Territorium ausschließlich für sich, und Außenstehenden wird der Zutritt nur für den Transit oder in seltenen Fällen nach einer Heirat gewährt.
    Andere Gesellschaften, die dem Extrem der exklusiven Territorien nahekommen, sind die Dani (Karte  1 ) im Baliem-Tal im Hochland von West-Neuguinea und die Iñupiat (eine Gruppe der Inuit) [3] im Nordwesten Alaskas, die Ainu in Nordjapan, die Yolngu (eine Aborigines-Gruppe im Arnhemland in Nordwestaustralien), die Shoshone-Indianer im Owens Valley in Kalifornien und die Yanomamo-Indianer in Brasilien und Venezuela. Die Dani zum Beispiel bewässern und bewirtschaften Gärten, die durch ein Niemandsland ohne Gärten von den Gärten der benachbarten Dani-Gruppe getrennt sind. Jede Gruppe baut auf ihrer Seite des Niemandslandes eine Reihe von bis zu neun Meter hohen hölzernen Wachttürmen, deren Beobachtungsplattform so groß ist, dass ein

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